»Ja, wir sind ein reiches, glänzendes Geschlecht, aber es fehlt uns etwas. Wie soll ich es nennen? Ist es das Maßhalten? die menschliche Bescheidenheit? Ja, das ist es! Das ließ uns das Alltägliche zu sehr geringschätzen.« [...]
»Ja, es ist kein Glück mehr bei euch und bei uns. Und da es nach meiner heiligen Überzeugung eine über uns waltende, zwar unbegreifliche, aber unbestechliche Gerechtigkeit gibt, so mögen wir diesen Untergang wohl selbst verschuldet haben.«
(Harre / Urgroßvater, S. 230)
Autobiographisch betrachtet ist der Text, Ricarda Huchs erster Roman, "eine »leicht aufzuschlüsselnde Dreiecksbeziehung« (I. Stephan) zwischen Schwager Richard Huch (Ezard), den die Autorin erst 1906 heiraten kann, Schwester Lilly (Lucile), Bruder Rudolf Huch (Ludolf) und der Autorin selbst (Galeide): »In dem Roman lebt Ricarda ihre Wünsche nach Liebe, aber auch ihre Gelüste nach Rache und Zerstörung, die sie in der Wirklichkeit unterdrücken mußte, ungehemmt aus« (I. Stephan)." [Nach: Kindlers Neues Literaturlexikon]
Letzteres mag auch der Grund sein für die spezielle Darstellung des Niedergangs eines hanseatischen Geschlechts. Thomas Mann dürfte in seinen 8 Jahre später erschienenen "Buddenbrooks" auch von Huchs Debütroman mit inspiriert worden sein. Beide gehen mit eben diesem Niedergangsthema recht unterschiedlich um: Bei den "Buddenbrooks" wird die Verknüpfung von ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und geistesgeschichtlichen Faktoren stetig reflektiert, ohne den Roman ins Räsonieren abgleiten zu lassen; Ricarda Huchs Darstellung ist dagegen geprägt von schwelgerischem Fin-de-siècle-Pathos und lässt die Ursachen und den Prozess des Niedergangs in einem abgedunkelten Hintergrund verharren, der dann die Kulisse für die erotischen Verzwicktheiten am vorderen Bühnenrand abgibt. Es herrscht in diesem Punkt zweifellos ein gewisser Mangel an Konkretion, zumal der Leser diese Darstellung dem Berichterstatter, der immerhin Rechtsanwalt gewesen sein soll, bevor er sich aus Lebensüberdruss ins Kloster zurückzog, nicht so recht abnehmen kann.
Dabei hat sich die Autorin durchaus bemüht, das Selbsterlebte für die Darstellung auf hinreichende Distanz zu bringen: Sie erzählt nicht als ›Galeide‹, sondern wechselt sogar das Geschlecht des Erzählers und versetzt sich in ihren Bruder (Rudolf: ›Ludolf‹, s.o.).
Das Ausweichen vor dem konkreten Detail signalisiert andererseits eben jene neuromantische Schreib- und Sichtweise, an deren Entwicklung und Durchsetzung Ricarda Huch essayistisch und literarisch maßgeblich beteiligt war - "eine leere fröhliche Fahrt" hat Adorno die Neuromantik ("Neuro-Mantik" schreiben Richard Hamann/Jost Hermand in ihrem "Impressionismus"-Buch) in seiner "Ästhetik" genannt: so fröhlich, schaut man sich ihre Produkte näher an, war sie aber zuletzt gar nicht.
Das liegt auch an ihrer Psychologie, die man u.a. bei Gabriele D'Annunzio, dem Zeitgenossen und Wegbereiter des italienischen Faschismus, nicht anders vorfindet: jenem von Nietzsche in Form gebrachten "Vitalismus", der in Deutschland Wirkungen bis in den Nationalsozialismus hinein gehabt hat und der von ›Überwindern‹ des Naturalismus seit den 90er Jahren des 19. Jh. gern gegen dessen ›soziologischen‹ Fatalismus ins Feld geführt wurde, weil dies den Selbstwert des Individuums unterstrich.
Ein Beispiel aus dem Roman:
"Denn Ezard und Galeide gehörten zu jenen glücklichen Menschen, denen man recht gibt, und auf deren Seite man sich stellt, aus keinem andern Grunde, als weil das Schicksal und die Natur auf ihrer Seite stehen. Denn diese fragen nicht, wer recht habe nach den moralischen Grundsätzen der Menschen, sondern sie wissen, wer stark und lebensfähig ist, und den begünstigen sie. Daher erscheint der Stärkere oft roh, wenn er sich über ebenso gute oder bessere Menschen aufschwingt und wohl gar die Trümmer ihres Lebens zum Unterbau eines stattlichen Glückes benützt." (S. 96)
(Zusammenhänge dieser Art sind geistesgeschichtlich untersucht worden von Michael Meyer: Willensverneinung und Lebensbejahung. Zur Bedeutung von Schopenhauer und Nietzsche im Werk Ricarda Huchs. Frankfurt/M. 1998.)
Um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Weder ist dieser großartige Roman ein Baustein des späteren NS, noch entbehrt er an sich jeglicher Materialität; vielmehr gehört, gerade Letzteres betreffend, die Einbindung etwa der aktuellen Hamburger Cholera-Katastrophe (1892) einschließlich der an ihr beteiligten politischen Versäumnisse zu seinen besonderen Vorzügen, von den zahlreichen bewegenden Momenten der Handlung einmal abgesehen.
Das Buch war seinerzeit kommerziell äußerst erfolgreich; das liegt nicht zuletzt an dem gepflegten, jugenstilhaft-bilderreichen und keineswegs humorlosen Stil, der - an Storm und Keller geschult - nach der verwahrlosten Ödnis naturalistischer Kahlschlag-Epik als Erholung empfunden worden sein muss, aber auch an der Art, wie "die Katastrophe über die Ursleus mit plötzlicher Gewalt in Gestalt einer Leidenschaft herein[bricht]" (Marie L. Lotze, im o.g. Kindler-Artikel), der die Handelnden nichts entgegenzusetzen haben: Die fin-de-siècle-Stimmung des Bildungsbürgertums hatte auf solch ein stilvolles Melodram geradezu gewartet.