Other Fiction Eschstruth, Nataly von: Polnisch Blut. V1 [German] 30.1.2022

[brucewelch]

"— nicht das Blut, sondern die Erziehung
schaffen eine Nationalität, nicht das Einst,
sondern das Jetzt bestimmt den Charakter."
(Graf Dynar in Kapitel II)

Sind es die Gene, ist es das soziale Umfeld, was das Wesen eines Menschen bestimmt? Es ist 1887, als der Roman erschien, die im Zeichen von Positivismus und Naturalismus viel diskutierte Frage, ob "Erbe" oder "Milieu" entscheiden. Und es bezeichnet die Ideologiegetränktheit der Eschstruth-Schreibe, dass in diesem Zusammenhang von "Blut und "Nation" die Rede ist. — Wer nun allerdings glaubt, dass dem "Polnischen" unter diesen Auspicien eine deutschtümelnd-rassistische Abfuhr erteilt würde, wird durch den Roman eines Anderen belehrt, auch darüber, dass die Fachfrau des Hof- und Adelsromans dieser Sphäre keineswegs kritiklos gegenüber steht (siehe u.a. den gänzlichen Mangel an jeglicher Bildung bei Fürst Heller-Hüningen oder das moralisch mehr als verwerfliche Intrigieren von Leonie und Gräfin Kany).

"Polnisch Blut" war einer der erfolgreichsten Romane Nataly von Eschstruths; und das ist kein Wunder, denn hier werden sämtliche denkbaren Genreszenen aus der Sphäre des Hoflebens in Reinkultur vorgeführt: Empfänge, Ball-Veranstaltungen, Parforcejagden, Pferderennen, Casino-Treffen — und das alles garniert mit intrigenreichen Machtspielen, einer dramatischen Liebesgeschichte und nicht zuletzt dem Titelthema: "Noch ist Polen nicht verloren". — Der Roman ist übrigens zeitlich um einige Jahrzehnte vor sein Erscheinen zurückversetzt: das französische Kaiserreich Napoleons III. existiert noch, der deutsch-französische Krieg hat noch nicht stattgefunden, ebenso wenig der preußisch-österreichische 1866/67; erwähnt wird jedoch gegen Ende ein neuerlicher Aufstand in Polen, bei dem es sich um den Januar-Aufstand von 1863 handeln dürfte. Die Zeit der Romanhandlung ist mithin Ende der 1880er Jahre bereits in märchenhafte Ferne gerückt, und entsprechend operettenmäßig kann das Geschehen an den Leser herangetragen werden.

Tautologische Volten ("Die Begrüßung mit Frau Leonie war eine fast kordial herzliche") oder sich selbst überwipfelnde Hyper-Superlative ("einzigste", "vollste"…), die auch vor Partizipialartistik ("Bollwerk verletzendster Arroganz"; "Verkörperung lächelndsten Gleichmuts") nicht zurückscheuen, muss der Leser bei all dem freilich als besondere Charmeoffensiven dieser von sämtlichen Musen leidenschaftlich geküssten Schriftstellerin zu goutieren wissen…

Das vorliegende eBook basiert auf eigenem OCR der Print-Version des Jahres 1899 (612 Seiten; die Erstausgabe erschien 1887).

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