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Old 07-14-2010, 07:01 AM   #8
Alaska
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Originally Posted by K-Thom View Post
Dass immer weniger Kinder lesen liegt daran, dass immer weniger ihrer Eltern lesen. Klassische Vorbildfunktion.
Das sehe ich einerseits auch so. Andererseits haben Kinder heute ganz andere Alternativen zum Lesen als frühere Generationen. Computer, iPod Touch, PS3 … Lesen ist erst einmal anstrengender als sich durch ein Spiel zu klicken oder hunderte von imaginären Freunden auf Facebook zu sammeln. Und wenn man es nicht gelernt hat, differenzierte und abwechslungsreiche Verknüpfungen von Worten und Bildern im Hirn zu erstellen, dann fehlen diese einfach und es fällt dann schwer, einem Buch etwas abzugewinnen.

Lesen ist ja keine Naturbegabung. Um anspruchsvolle Literatur oder Lyrik genießen zu können, müssen die Synapsen regelmäßig trainiert werden.

Hier mal ein Gespräch mit der Bidungsforscherin Maryanne Wolf zum Thema:
Im Gespräch: Maryanne Wolf

Ist unser Gehirn in Gefahr, Mrs. Wolf?

Irgendwann bemerkte die Bildungsforscherin Maryanne Wolf, daß sie nicht mehr so lesen konnte wie früher. Und machte sich den Erhalt der vertieften Lesefähigkeit zur Mission. Wir lernen sie auf dem Literaturfestival Mantua als enthusiastische und verbindliche Forscherin kennen.

Von Thomas Thiel

Die Neurowissenschaften haben uns viele intuitive Gewißheiten bestätigt und auf eine neue empirische Basis gestellt. Was kann uns neurowissenschaftliche Forschung über das Lesen sagen, was wir bisher nicht wußten?

Vor allem, daß das Lesen alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Das Besondere am Lesen ist, daß der Mensch nie genetisch dazu
programmiert wurde, es ist kein natürlicher Prozeß. Im Unterschied dazu ist die
Sprachfähigkeit programmiert. Das Sprechen ist ein Prozeß, der sich nur entfalten muß. Das Lesen verfügt nicht über solche, eine genetische Sequenz. Es ist nicht nur genauso komplex wie
Sprache. Es geht in meiner Sichtweise sogar noch über die Sprache hinaus.

Inwiefern?

Was wir neurowissenschaftlich bei der geschriebenen Sprache beobachten, ist die erstaunliche Fähigkeit des Gehirns, sich neu zu arrangieren. Das Studium des Lesens zeigt uns, wie sich das Gehirn umbildet und seine Kapazität erweitert, während es Lesen lernt. Diese Fähigkeit beruht auf dem Prinzip der Neuroplastizität. Das Gehirn hat selbst im Erwachsenenalter keine feste Form, sondern kann sich ständig umformen.

Wie haben wir uns das im Fall des Lesens und Lesenlernens vorzustellen?

Das Gehirn bildet ständig neue Schaltkreise. Beim Lesenlernen verknüpft es bisher unverbundene Gehirnareale, die genetisch für andere Dinge programmiert sind, für die visuellen, motorischen, konzeptuellen und sprachlichen Prozesse. Es wird so beim Lesen eine völlig neue Struktur gebildet, die unsere intellektuellen Fähigkeiten erweitert. Das ist eine Folge des phylogenetischen Prozesses, es hat sich über Millionen von Jahren entwickelt.

Wie läßt sich aus der Umbildung der physiologischen Struktur auf einen intellektuellen Zugewinn schließen?

Der Ausgangspunkt ist die Fähigkeit zur Bildung von Repräsentationen. Wir können Informationen, die wir irgendwann einmal gesehen, gehört oder gefühlt haben, wieder hervorholen. Die Entwicklung dieses Vermögens war ein entscheidender Faktor für unser Überleben. Der dazugehörige Prozeß findet im hinteren Teil unseres Gehirns statt. Man muß es sich vorstellen, als würden dort Millionen kleiner Bilder der Objekte aus unserer Umwelt produziert. Daraus können wir Muster bilden. Es ist diese Fähigkeit, sich Sinneseindrücke durch Reflexion wieder vor
das Auge zu rufen und sie zu benennen, die Herder als das Urvermögen zur Sprache bezeichnete. Das gilt jedoch auch für die gesprochene Sprache. Was das Lesen dazu beiträgt, ist mit den Worten des Hirnforschers Stanislas Dehaene das „neuronale Recycling“. Wir haben durch das Lesen unsere Fähigkeit zur Repräsentation von Gegenständen „recycled“, also neu arrangiert, und wir nutzen dies, um Symbole zu repräsentieren. Die Neuronengruppen spezialisieren sich, und der kognitive Prozeß beginnt automatisch abzulaufen. Das ist die entscheidende Entwicklung fürs Lesen. Alle Repräsentationen können so automatisiert werden, daß es dem Gehirn möglich wird, sie mit einer derartigen Geschwindigkeit zusammenzusetzen, daß man sie automatisch erkennen, sie mit dem dazugehörigen Laut, dem entsprechenden Wort verbinden kann. Das Wort enthält auch alle damit verbundenen Assoziationen und Bedeutungen. Das Lesen als das Bilden von Bedeutungen kann nicht entstehen, wenn nicht alle vorausgehenden Prozesse automatisch werden. Man hat 100 bis 200 Millisekunden Zeit, um zu verstehen, was ein Wort ist.

Sie unterscheiden zwischen verschiedenen Lesertypen. Dem Leseanfänger, dem Leseexperten und mehreren Zwischenstufen. Müssen wir Leseexperten sein, um beim Lesen auch denken zu können?

Ja. Lesen heißt nicht nur Informationen aufzunehmen. Das ist notwendig, aber nicht ausreichend, wenn wir Wissen erwerben wollen. Wissen bedeutet auch Einsicht und Interpretationsfähigkeit. Erst der Leseexperte kann diese deduktiven und inferentiellen Möglichkeiten nutzen. Das bedeutet Arbeit. Wir müssen beim Lesen semantische Systeme aktivieren. Wenn man so schnell fortschreitet, daß man diese Bedeutungen nicht mehr aktivieren kann, weil man nur nach Informationen Ausschau hält, verfehlt man einen wichtigen Aspekt des verstehenden Lesens. Ein ideales Gehirn kann dieses Gleichgewicht halten zwischen Effizienz und Vertiefung. Hier fängt das Lesen erst an und wir werden vom Lesen verändert. Wir werden biologisch und emotional reicher.

Sie gehen davon aus, daß das Gehirn des erfahrenen Lesers auch eine größere Gefühlstiefe erreicht?

Ja, wir können die emotionale Ebene nur erreichen, wenn wir über das informationelle Lesen hinausgehen können.

Kann man diese Vorzüge des Lesens nicht auch im Gespräch erreichen?

Es gibt einen einzigartigen Aspekt der geschriebenen Sprache, die sie von der gesprochenen Sprache unterscheidet. Im Heiligtum des Lesens, wie es Proust nannte, können wir bestimmte Gefühle erst riskieren. Wir können uns in einen Tyrannen hineinversetzen, in einen Mörder, wir können Anna Karenina oder Madame Bovary werden. Das Lesen ermöglicht uns diese Identifikation, und wir entdecken Dinge, die
wir nie erfahren würden. Es ist ein Repertoire der Menschenkenntnis, ein Königreich der Vorstellungskraft.

Voraussetzung ist, daß wir eine eigenständige symbolische Ordnung bilden können.

Ja. Marcel Proust sagte, es liege im Herzen des Lesens, die Weisheit des Autors hinter uns zu lassen und unsere eigene Wahrheit und Weisheit
zu entdecken. Das ist es, was ich deep reading und deep understanding nenne.

Kann man verschiedene Arten des Denkens wie analytisches oder interpretierendes Denken neurowissenschaftlich auseinanderhalten? Kann die Hirnforschung im bildgebenden Verfahren erkennen, wann es zu einem reflektierten Lesen kommt?

Eine schwierige Frage. Einige amerikanische Forscher versuchen gerade, solchen Unterschieden auf die Spur zu kommen. Doch die Forschung ist noch in den Anfängen.

Es gibt eine breite Kritik der Schrift und des Lesens von Sokrates bis Derrida. Die Schrift verfestige die gesprochene Rede. Das Lesen sei ein passiver, eindimensionaler Vorgang im Vergleich zum Gespräch, vieles Lesen schleife die Bedeutungsbildung ab.

Ja, das ist es, was Sokrates sagte. Er hatte so recht und lag gleichzeitig so falsch. Es war nicht das Lesen, das er als Feind betrachtete. Er kritisierte die Illusion, durch das Lesen automatisch etwas zu wissen. Aber wir können unser kulturelles Erbe in einer so komplex gewordenen Welt nicht ohne Schrift und Lesen bewahren. Nach Sokrates kamen Plato und Aristoteles, und da hatten wir schon den Übergang zur vollständigen Schriftlichkeit. Es kann sein, daß wir jetzt wieder den sokratischen Moment haben, daß wir uns in einem entscheidenden Übergang befinden.

Was meinen Sie damit?

Es war wie ein Schock, als ich Sokrates, Plato und Aristoteles in diesem Moment wieder las. Ich sagte mir: Das ist derselbe Moment des Übergangs, den wir heute erleben. Damals war es der Übergang von der gesprochenen zur geschriebenen Sprache. Heute ist es der Übergang von gedruckten zu digitalen Texten, die ein informationelles Lesen und ein anderes Gehirn ausbilden. Ich erkannte, daß ich noch das alte klassische Gehirn bin und meine Kinder schon digitale Gehirne besitzen. Es ist wie ein Generationenbruch, eine Art Fremdheit.

Wie wurde Ihnen das bewußt?

Mir wurde klar, daß ich als non-digital native zwar noch ein klassisches Lesegehirn habe, daß aber auch das in Gefahr ist. Ich hatte geglaubt, gegenüber dem digitalen Lesen immun zu sein. Ich dachte nie, daß ich jemals anders lesen würde, als ich es gelernt habe. Dann aber mußte ich feststellen, mehr und mehr wie ein digital Eingeborener zu lesen. Also machte ich einen Test. Ich zwang mich, das Glasperlenspiel von Hermann Hesse zu lesen, das ich vor langer Zeit einmal gelesen hatte. Eine Tortur. Ich las dreißig Seiten, aber wie eine Maschine. Es war, als würde ich nur Informationen aufnehmen, ohne sie zu verarbeiten und darüber nachzudenken. Ich las wie ein Prozessor, ohne Gefühl, ohne Phantasie. Es war ein Schock.

Welche Konsequenz zogen Sie aus dieser Erfahrung?

Ich zwang mich über die Dauer von drei Monaten hinweg zum langsamen Lesen. Und so kam ich allmählich zum normalen Lesen zurück. Aber es war ein Schlüsselerlebnis. Ich sagte mir: Wenn das schon mir passiert, was passiert mit unseren Kindern, die so früh ins digitale Universum hineingezogen werden, daß sie überhaupt nicht die Möglichkeit haben, diesen phantasiebildenden, freudvollen Lesestil zu erlernen? Ich befürchte, daß unsere digital sozialisierten Kinder nie die intellektuelle Spannung kennenlernen werden, die darin liegt, immer weiter über die Bedeutung des Autors hinauszugehen und eine eigene Welt der Vorstellung und Erleuchtung aufzubauen.

Es gibt verschiedene Lesestile. Sie beziehen sich zumeist auf die narrative Literatur, bei der die Sprache über den zeichenhaften Gebrauch hinausgeht. Dann gibt es aber auch Texte, die informierenden Typs sind, für die oft das Überfliegen und Scannen ausreicht. Müssen wir verschiedene Arten des Lesens entwickeln und trainieren?

Ja, wir müssen zwei Arten von Lesen entwickeln und auch lehren, und wir müssen sie unseren Kindern beibringen. Wir brauchen Gehirne, die von einem Modus in den anderen wechseln können. Meine Sorge ist, daß Leute meines Alters das noch beherrschen, aber unsere Kinder nicht mehr. Diese Umstellung braucht viel Zeit. Man kann sich dem Informationsfluß nicht entziehen. Ohne die Fähigkeit zum schnellen Erfassen könnten wir uns nicht zurechtfinden.

Wie soll man die Unterscheidung zwischen informierendem und interpretierendem Lesen erreichen?

Durch ein vertieftes Verständnis für die Schönheit unserer eigenen Lesebiographie! Goethe sagte, er habe achtzig Jahre gebraucht, um richtig lesen zu lernen, und selbst dann sei er noch nicht am Endpunkt gewesen.

Und was sollen wir praktisch tun?

Durch Bücher. Das Buch hat eine stabilisierende Qualität. Es bewegt sich nicht und bringt uns dazu, Pausen zu machen und in eine der Zeit enthobene Sphäre einzudringen. Wenn wir ein Buch lesen, haben wir das vor uns, worüber wir nachdenken. Wir müssen nicht daran denken, unsere Mails zu checken oder Ähnliches. Wir haben keine parallelen Gedankenprozesse und müssen unsere Aufmerksamkeit nicht ständig wechseln. Wir können Raum und Zeit verlassen.

Welche Bedeutung hat die Materialität des Textes für das Gedächtnis?

Wir verbinden unsere Erinnerungen mit bestimmten, bildhaften Gegenständen. Wir erinnern uns, auf welcher Seite wir welchen Gedanken in welchem Buch gelesen haben, das heute an genau dieser Stelle in unserer Bibliothek steht. Wie Proust schrieb: „Es stand in einem türki-
sen, eher kleinen Buch.“ Die sinnlichen, taktilen Elemente sind uns eine Gedächtnisstütze. Wenn wir lesen, gleiten wir in die Wirklichkeit eines anderen hinüber. Macchiavelli drückte dies aus, indem er sich im Stil der Epoche des Autors kleidete, den er jeweils las. Wir kommen aus der Lektüre anders zurück, als wir sie begonnen haben. Wir sind, was wir lesen und wie wir lesen.

Was ist Ihre Methode, die zwei Lesemodi zu erhalten?

Ich zwinge mich jeden Tag, ein Buch oder ein Gedicht langsam, dankbar und konzentriert zu lesen. Jeden Tag, jeden Abend, bevor ich schlafen gehe. Wir sollten unser tiefes, vielfältiges, unabschließbares inneres Leseleben nie aufgeben. Sicherlich nicht, bevor wir mindestens achtzig Jahre alt sind.
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