Von diesem Werk gibt es erst seit kurzem eine vollständige deutsche Übertragung (von Maria Weber; BoD-Books on Demand, 2018, 634 Seiten). Bis dahin war die hier vorgelegte Übersetzung von
Meta Liebeskind nicht nur die erste deutsche Übertragung, sondern auch die einzige. Zu ihrer Bewertung muss in Betracht gezogen werden, dass die Übersetzerin gerade von ihrem ersten Ehemann geschieden worden war und die Anfertigung von Übersetzungen ihrem Lebensunterhalt diente; eine filigrane Arbeit am Text mit abgewogenem Vokabular und glanzvollem Stil ist daher nicht zu erwarten. Hinzu kommt, dass Texte dieser Art damals und noch lange Jahrzehnte später jeglicher Lektorierung ermangelten und damit jedweder Fehlerhaftigkeit bis hin zur schieren Setzerwillkür ausgeliefert waren. Liebeskinds "Udolpho" sieht man nicht nur an, dass die Übersetzerin von der Hälfte an zunehmend schludrig, wenn nicht geradezu lustlos gearbeitet hat – Übersetzungsfehler und Kürzungen häufen sich –, sondern auch, dass hier mehrere Setzer am Werk waren, die mit unterschiedlichen Wortbildern Liebeskinds Manuskript umzusetzen versuchten. Von einer konsequenten und irgendwie hilfreichen Verwendung von Anführungszeichen kann von Anfang an nicht die Rede sein.
Das alles führte zu einem recht desolaten Zustand eines Druckwerks, das in der vorgefundenen Form wiederzugeben sinnlos gewesen wäre; deshalb entschloss ich mich zu folgenden
Änderungen gegenüber der Erstausgabe:
a) Aktualisierung von Rechtschreibung und Zeichensetzung im Sinne der derzeitigen Regeln einschließlich Kennzeichnung der wörtlichen Rede;
b) Modernisierung im Wortgebrauch (stachligt > stachlig u.ä.; sehn, gehn > sehen, gehen u.ä.) und in der Grammatik (Wegfall des heute antiquierten Dativ-e’s: Hofe > Hof u.ä.; Casus-Angleichungen an den heutigen Sprachgebrauch: Emilien > Emilie, Emiliens > Emilies u.a.m.);
c) Neueinrichtung der Absätze, sowie
d) Berichtigung von Druck- und Übersetzungsfehlern - in der Regel wird dies in den Anmerkungen im Kontext des englischen Originals dargelegt.
Liebeskinds Übersetzung erschien in erster Auflage in 4 Bänden 1795/96 (insges. 1131 Seiten); bereits diese Erstauflage stellt gegenüber dem englischen Original eine beträchtliche Kürzung dar, der insbesondere Beschreibungen der Landschaften bzw. von Emilies Gefühlszuständen und Reflexionen sowie Gespräche mit den Dienstboten (Annette, Dorothee etc.), aber auch ganze Szenen zum Opfer fallen, was schon hier zu bisweilen ernsten Sinnlücken führt; entfallen sind ferner sämtliche Motti und Lyrikeinlagen, auf die Anne Radcliffe, die diesen Roman nicht mehr anonym, sondern unter ihrem tatsächlichen Namen veröffentlichte, besonders stolz war, indem bereits auf der Titelseite der Erstausgabe auf sie hingewiesen wird: "
interpersed with some pieces of poetry".
In der 2. Auflage (wenn man sie überhaupt so nennen darf), 1798 in 2 Bänden, werden weitere umfangreiche Kürzungen vorgenommen, so dass weitere Sinnlücken entstehen.
Es ist darum schwer zu verstehen, dass dieser verstümmelte Raubdruck tatsächlich 2013 von Sylvia Kolbe für eine Ausgabe im Engelsdorfer Verlag transkribiert wurde.
Auch die Erstausgabe hat eine Neuedition erhalten, nämlich 2014 im Golkondo-Verlag, Berlin, in vier Bänden mit jeweils über 200 Seiten; die für die Transkription zuständigen Bearbeiter, Alexander Schepke, Hardy Kettlitz und Hannes Riffel, haben sich entschieden, den vorgefundenen Text 1:1 wiederzugeben, was ich, wie bereits gesagt, für eine Fehlentscheidung halte, weil damit die zahlreichen Setz- und Übersetzungsfehler unkorrigiert stehen geblieben sind — was schade ist, weil man sich sogar den Luxus fortlaufender Originalseitenziffern geleistet hat.
Das vorliegende eBook greift also auf die 1. Auflage von 1795/96 zurück; die Vorlage waren hierfür die PDF-Scans, wie sie aus den digitalen Beständen der "Herzogin Anna Amalia Bibliothek" in Weimar heruntergeladen werden können.
Die Motti der englischen Ausgabe sind in einem Anhang dem eBook einverleibt und mit den Kapitelüberschriften vorwärts/rückwärts verlinkt. Die von der Übersetzung übergangenen Passagen einschließlich der Lyrikeinlagen kann der Interessierte im englischen Originaltext über die Anmerkungen anwählen. Letztere enthalten neben Erläuterungen zu Textänderungen ein Reihe von sachdienlichen Hinweisen.
Bei dem - unter einigem Aufwand - so angelegten eBook lag es mir am Herzen, dem Interessenten an der deutschsprachigen literarischen Kultur des 18. Jh. ein Beispiel zu geben für das damalige Übersetzungshandwerk; dazu war die Einbeziehung der ausgelassenen Textteile des englischen Originals nötig. Wer nur schmökern will, ist vermutlich mit der aktuellen Übertragung von Maria Weber besser bedient. Möglich ist dies mit dem vorliegenden eBook aber auch, das aufgrund der zeitgenössischen Sprache dem englischen Original natürlich sehr nahe steht. Um diesem Lesebedürfnis gerecht zu werden, wurde nicht nur der Text schriftsprachlich modernisiert, sondern das eBook selbst wird auch in einer zweiten Fassung angeboten, in der die Motti, sämtliche Anmerkungen und die hierauf bezogenen Verweise auf den Edit- und TOC-Seiten unsichtbar gemacht (nicht eliminiert!) sind. Wer in dieser Version die Kapitelüberschriften anklickt, wird allerdings auf eine scheinbar leere Seite geführt — aber gehe ich recht in der Annahme, dass der Schmöker-Leser ohnehin nicht groß herumklickt? …