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Guter Artikel. Der deutsche Buchmarkt und die digitale Revolution – das ist ein solches Trauerspiel, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Die Verlage machen wirklich jeden Fehler nach, den die Musikindustrie vorgemacht hat, und sie haben nichts, aber auch gar nichts begriffen. - Es ist doch heute weiß Gott kein Hexenwerk mehr, einen Webshop aufzusetzen. Warum machen sich die Verlage komplett von Amazon abhängig, anstatt ihre e-books selbst zu vertreiben? Natürlich, bei Amazon findet der Kunde alles an einem Fleck. Aber was spräche gegen einen gemeinsamen Webshop der deutschen Verlage? Wozu gibt es einen Börsenverein, der so etwas organisieren könnte? Stattdessen versucht man stur, Vertriebsstrukturen, die sich für gedruckte Bücher bewährt haben (Verteilung über Barsortimenter und kleinteiligen lokalen Buchhandel, Buchpreisbindung) 1:1 auf den ebook-Markt zu übertragen, wo sie komplett sinnlos und dysfunktional sind. Vielleicht würden sich die Sortimenter im Börsenverein gegen einen Direktvertrieb von ebooks wehren. Man muss aber leider ganz klar sehen: In eben dem Maße, wie sich das ebook gegen das gedruckte Buch durchsetzen wird, wird der traditionelle Sortimentsbuchhandel untergehen. Ich sage das nicht gerne, denn wie jeder Buchliebhaber liebe ich auch die Atmosphäre eines Buchladens und schätze meinen Buchhändler. Aber fast alle Funktionen, die ein Buchhändler hat (Bücher vorrätig zu haben bzw. schnell zu besorgen, Stöbern zu ermöglichen und zu beraten) leistet eine Online-Plattform ebenso gut oder besser (siehe Amazon: 24 Stunden geöffnet, mehr Auswahl, schnellere und bessere Suche, als sie jeder stationäre Buchladen je haben könnte, ausgiebige Leseproben („Blick ins Buch“), hilfreiche Leserbewertungen, Prime-Lieferung am nächsten Tag). Gewiss, es fehlt der persönliche Kontakt – aber der hat die Tante-Emma-Läden auch nicht vor dem Aussterben bewahrt. Gedruckte Bücher und Läden dafür wird es auch in Zukunft noch geben, aber eher so, wie es heute Manufakturen und Läden für handgenähte Schuhe oder teure Handaufzug-Chronometer gibt: Als Nischenmarkt für kultivierte Liebhaber zu entsprechenden Preisen (gut, das ist jetzt etwas übertrieben, aber in diese Richtung wird es sich entwickeln). Und dann gibt es noch einen Buchladen in der Königsallee in Düsseldorf, aber nicht mehr in der Fußgängerzone von Neukirchen-Vluyn.
- Womit wir bei den Preisen wären - die für ebooks einfach grotesk überhöht sind. Jeder, der sich ein wenig mit Verlagskalkulation auskennt, wird zugeben, dass ein ebook als Zweit- bzw. Drittverwertung eines Hardcovers/Taschenbuchs im Direktvertrieb allenfalls ein Drittel des gedruckten Buches kosten dürfte. Stattdessen werden potentielle Käufer mit 10 oder 20 Prozent Nachlass nicht gelockt, sondern abgeschreckt. Ein Lehrer, der Reclam-Bändchen beim Verlag mit 20% Rabatt erhält, bekommt das Buch auf Papier tatsächlich billiger als das entsprechende ebook! Und was man da erhält, ist dann in der Regel noch DRM-verseucht, also kein Buch, sondern eine eingeschränkte und unsichere Lizenz. Und dann wundert man sich, wenn die Leser sich kostenlos bei ThePirateBay oder boerse.to an unverkrüppelten Büchern bedienen – als hätte die Musikindustrie nicht schon längst die Einsicht vorgemacht, dass DRM kontraproduktiv und absatzschädigend ist.
- Bisher ging es nur um das ebook als Nebenform des gedruckten Buchs. Dass man sich mit ebooks ganz neue Absatzfelder erschließen könnte, scheint noch niemand bemerkt zu haben – zum Beispiel durch radikale Preissenkungen. Auch hier gibt es ein Vorbild, nämlich die Softwareindustrie. Noch vor zwanzig Jahren waren professionelle Programme für Desktop-Computer nur zu Preisen zwischen 50 und 500 Mark zu haben. Heute kosten Tablet-Apps überwiegend zwischen 90 Cent und 9 Euro – und werden zu Tausenden und Millionen gekauft. Die Entwickler sind darüber nicht verhungert, ganz im Gegenteil. Und was machen die Verlage? Nur ein Beispiel: Die Große Kommentierte Berliner und Frankfurter Brecht-Ausgabe bei Suhrkamp kostet € 1280,–; das heißt, der potentielle Käuferkreis beschränkt sich auf wissenschaftliche Bibliotheken und eine Handvoll Spezialisten. Eine ebook-Edition der kompletten Ausgabe für, sagen wir, € 99,90 würde Tausende neuer Käufer finden – ohne den Bibliotheksmarkt zu kannibalisieren. Gibt es aber nicht. Ebenso wie S. Fischer einzelne Essays von 10 oder 15 Seiten Umfang aus der Großen Kommentierten Frankfurter Thomas-Mann-Ausgabe als ebooks für € 1,99 das Stück anbietet. Wer ist denn verrückt genug, dergleichen zu kaufen? Ja, es gibt auch die „Buddenbrooks“ in der Textfassung der GKFA für € 9,49 – mit ordentlich Druckfehlern (z. B. erscheinen alle ursprünglichen ck-Trennungen im Wortinneren als kk) und ohne den Kommentarteil!
- Womit wir bei der Qualität wären. Dass ein ordentliches ebook mindestens ebenso gut zu sein hat wie ein gedrucktes, das wissen zwar Mobileread-Herausgeber wie pynch, nicht aber die deutschen Verlage. Fußnoten, Anmerkungen, Abbildungen? Fehlen oft genug. Ganz zu schweigen davon, dass die Technik der ebooks ermöglichen würde, einen enormen Mehrwert für den Leser gegenüber dem gedruckten Buch zu realisieren. Aber um das zu sehen, müsste man wohl etwas anderes gelernt haben als Verlagskaufmann...
Nein, es ist zum Heulen. Lieber zankt man sich öffentlichkeitswirksam darum, ob Amazon vergleichbar hohe Rabatte bekommen soll wie die großen Barsortimenter. Weiß der Himmel, wo das enden soll. (Sorry für den überlangen Rant, aber das musste einfach mal raus...)
Last edited by Jossi; 08-28-2014 at 05:16 PM.
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