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Old 01-05-2013, 01:59 PM   #1604
brauronios
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Obwohl ein wenig verspätet, möchte ich etwas zum Thema hinzufügen.

Medards Bemerkungen sind absolut sinnvoll. Sie treffen hier den Hauptpunkt. Was editorische Qualität angeht, gibt es kein einziges Kriterium. Man kann verschiedene Niveaus und damit verschiedene Kriterien unterscheiden.

Die kritische Ausgabe ist am anspruchsvollsten: im Prinzip, d.i. soweit möglich, will sie den originalen Text des Autors wiederherstellen; und das buchstäblich, Orthographie inbegriffen. Schon die Interpunktion ist ganz andere Sache. Für moderne Texte müsste man die Intention des Autors respektieren. Für antike Texte, die keine eigene Interpunktion hatten, gehört sie ausschließlich dem Herausgeber. Und das hat sogar komische Aspekte: dass eine altgriechische Seite von einem deutschen Philologen herausgegeben wurde, kann man in einem Nu erkennen; denn da findet man eine übersteife Interpunktion, die weder griechisch noch universal betrachtet werden kann. Aber lassen wir mal die Kleinigkeiten völlig beiseite. Die kritische Ausgabe ist, im Prinzip, am treuesten. Und damit auch am vertrauenswürdigsten. Allein, sie ist für Fachleute konzipiert. Für den normalen (auch gebildeten) Leser ist sie plethorisch, übermäßig.

Es gibt also Platz für andere Arten von Ausgaben, sozusagen mehr ‘user friendly’. Und besonders für Ausgaben, die Korrektheit und Leserbarkeit vereinigen können. Es gibt Platz für seriöse und respektable Ausgaben, die einen korrekten und zugleich leicht zugänglichen Text vorstellen. Man kann hier verschiedene Kriterien übernehmen. Jedes kann je nach der Sache oder dem Zweck mehr oder weniger opportun erscheinen. Aber eine unbedingte, unbegrenzte, Freiheit ist hier nicht gestattet. Wesentlich ist, Kriterien festzusetzen. Wesentlich ist, sich danach zu richten. Wesentlich ist, seine Kriterien in einem kurzen Vorwort ohne Umschweife zu bekunden. Diese bloße und selbstverständliche Grundsätze sollten, meiner Meinung nach, auch für amateurische Ausgaben auf digitalem Niveau verbindlich sein.

Um ein euch bekanntes Beispiel zu nennen, denken wir an die reiche Lessing-Ausgabe, die pynch hergestellt hat. Hoffentlich wird er mir verzeihen, wenn ich mir erlaube, seine Arbeit für ein “experimentum in corpore vili” zu benutzen und öffentlich jene Kritiken auszusprechen, die ich schon privat formuliert hatte. Für eine gute Lessing-Ausgabe hat der Herausgeber gar keine Pflicht, die originale Rechtschreibung heute wiederzugeben. Er ist berechtigt, sie zu modernisieren. Wenn er aber Altes und Neues vermischt, ist das Ergebnis nicht akzeptabel. Man kann entweder wiedergeben oder modernisieren. Aber unter der strikten Bedingung, konsequent zu sein. In pynchs Ausgabe scheint Lessing, bald “seyn” oder “bey” oder “beyde”, bald “sein” oder “bei” oder “beide”zu schreiben. Hat das einen Sinn? Keinen. Es ist weder Modernisierung noch Wiedergebung des Originalen. Es ist nur ein Wirrwarr. Dass er schon im Zeno-Text steht, ist keine Rechtfertigung. Der Herausgeber muss eine einzige Regel bewusst und konsequenterweise anwenden.
Was die griechische Zitate anbelangt, ist es nicht so schwierig. Die Geschichte der altgriechischen Rechtschreibung in der Moderne ist ziemlich einfach. Seit der Renaissance triumphiert überall die auch heute übliche, nunmehr stark eingebürgerte, Orthographie: diejenige mit Akzenten und Spiritus. Wenn wir sie anwenden, müssen wir das griechische Motto zu Beginn des Dramenfragments “Samuel Henzi” so schreiben: ἐλευθερίας ἓν μὲν τὸ ἐν μέρει ἄρχεσθαι καὶ ἄρχειν. Dies ist aber eine “Modernisierung”, oder vielmehr eine Normalisierung. Lessing selbst benutzte eine vereinfachte Rechtschreibung, mit Spiritus aber ohne Akzente, die vermutlich nur im deutschen 18. Jahrhundert in Mode war. In einer kritischen Ausgabe müssten wir daher so schreiben: ἐλευθεριας ἑν μεν το ἐν μερει ἀρχεσθαι και ἀρχειν. pynch geht einen dritten Weg. Er reproduziert den Zeno-Text und schreibt so: Ελευτηεριασ, ηεν μεν το εν μερει αρχηεστραι και αρχηειν ηεν δε το ζὲν, ηὸς βουλεται τις. Was ist bloß eine Monstrosität. Nochmal: dass man sie im Zeno-Text findet, ist keine Rechtfertigung.

Dies alles hatte ich mit pynch privat schon diskutiert. Er hat nichts korrigiert.
Selbst in einer Amateur-Ausgabe halte ich das für kaum akzeptabel. Andere können, vielleicht, anders denken.

Last edited by brauronios; 01-06-2013 at 04:49 AM.
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