Achtung, Kuh: In Indien ist aus einem Tier ein Politikum geworden

Kühe sind in Indien heilig. Das macht sie im Teilstaat Uttar Pradesh zum Wahlkampfthema und zu einem Problem für die Bauern.

Andreas Babst, Lucknow
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Kühe werden von vielen Indern verehrt: Ein Bettler wartet während eines grossen hinduistischen Festes in Allahabad auf spendierfreudige Pilger.

Kühe werden von vielen Indern verehrt: Ein Bettler wartet während eines grossen hinduistischen Festes in Allahabad auf spendierfreudige Pilger.

Daniel Berehulak / Getty

Dort, wo die Erde schwarz ist, macht Rathoor jede Nacht sein Feuer und hält Wache. Dort, wo die Erde braun ist zwischen den Weizenhalmen, hat er nicht aufgepasst. «Die Hälfte meiner Ernte haben sie schon gefressen», sagt Rathoor. In der Nacht kommen die Kühe. Gestern habe ihn ein Stier angegriffen, sagt Rathoor, er sei gerade noch entkommen. Rathoor ist einer von Millionen Kleinbauern im grössten indischen Teilstaat, Uttar Pradesh. Er sagt, er sei ungefähr 50 Jahre alt, einen Nachnamen habe er nicht.

Rathoors Dorf Lalpur Banjara liegt zwei Autostunden nördlich der Provinzhauptstadt Lucknow. Durch die Felder und über die Strassen wandern dürre Kühe, das kann man besonders indisch oder besonders romantisch finden, aber für die Menschen im ländlichen Uttar Pradesh ist es vor allem ein Problem. Die Strassenkühe fressen ihnen die Ernte weg. Dass es so weit kam, hat mit Politik und Religion zu tun, und damit, dass in Indien gerade beides vermischt wird.

Streunende Kühe auf einem Feld bei Mathura in Uttar Pradesh.

Streunende Kühe auf einem Feld bei Mathura in Uttar Pradesh.

Mayank Bhardwaj / Reuters

Rathoor sagt: «Die Kuh ist eine Göttin.» Er ist Hindu und ein Dalit, er gehört der untersten Gruppe im indischen Kastensystem an. Wie auch seine Nachbarn. Sie alle verehren die Kuh. Und doch haben einige Bauern im Dorf rasiermesserscharfen Stacheldraht um ihre Felder gespannt, die streunenden Kühe verletzen sich daran schwer. Yashoda, 55, auch sie ohne Nachnamen, sagt: «Was sollen wir denn mit unseren alten Kühen tun? Wie lange sollen wir sie anbeten und sie heilig nennen? Wir müssen sie verkaufen können.»

Der indische Teilstaat Uttar Pradesh
100 Kilometer
Indien

Ein radikaler Hindu-Mönch als Chefminister

Früher ging die Kette so: Die Bauern hielten Kühe, gaben diese keine Milch mehr, wurden sie an einen Zwischenhändler verkauft. Der lieferte sie an die Schlachthöfe. Niemand wollte so genau wissen, wohin die Kuh gekarrt wurde, denn das Schlachten von Kühen ist in Indien laut Verfassung verboten. Aber längst nicht alle Teilstaaten setzten das Schlachtverbot um.

2017 gewann die Hindu-nationalistische BJP die Wahlen in Uttar Pradesh mit überwältigender Mehrheit. Es war ein weiterer Meilenstein für die Partei von Premierminister Narendra Modi, er war drei Jahre zuvor an die Macht gekommen. Aus Modis Fahrwasser stieg der Chefminister von Uttar Pradesh auf: Yogi Adityanath ist ein Hindu-Mönch, der unverblümt gegen Minderheiten und Muslime hetzt. Eine von Adityanaths ersten Amtshandlungen war, die Kühe besser zu schützen. Das war praktisch: In das Schlachten und den Handel mit Kühen waren vor allem Muslime und Dalits involviert.

Der Chefminister von Uttar Pradesh, Yogi Adityanath, jettet im Helikopter von einer Wahlveranstaltung zur anderen.

Der Chefminister von Uttar Pradesh, Yogi Adityanath, jettet im Helikopter von einer Wahlveranstaltung zur anderen.

Rajesh Kumar Singh / AP

Es war von da an strikt verboten, Kühe zu schlachten. Jeder Kuh-Verkauf in Uttar Pradesh muss heute von einem lokalen Bürokraten bewilligt werden. Mit den strengeren Gesetzen kam auch die Stunde der Kuh-Rächer – Gruppen junger Männer, die auf der Landstrasse Lastwagen kontrollierten und Fahrer lynchten, wenn sie Kühe geladen hatten. Oder Bauern auf dem Weg zum Viehmarkt verprügelten. Viele Bauern haben es aufgegeben, ihre Kühe zu verkaufen. Weil sie die alten Tiere aber nicht durchfüttern können, treiben sie diese fort. Bei der letzten Viehzählung 2019 gab es in Uttar Pradesh fast 1,2 Millionen Strassenkühe. Deren Zahl hat seit 2015 in Indien abgenommen, in Uttar Pradesh hingegen ist sie steil angestiegen.

«Manchmal, wenn wir die Kuh beschützen, werden wir als Hooligans beschimpft», sagt Prashant Tiwari. Tiwari, 32, gehört dem Vishva Hindu Parishad («Welt-Hindu-Rat») an, die Organisation will den Hinduismus bewahren und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die indische Kuh zu schützen. Hören sie im Hauptquartier in Lucknow, dass jemand Kühe schmuggelt – so nennen sie es hier –, dann informieren sie die lokale Bevölkerung. «Manchmal gibt es einen Kampf. Und meistens alarmieren wir auch die Polizei», sagt Tiwari. Schmuggeln kann schon heissen, dass ein Bauer seine Kuh zum Markt führt. In den vergangenen Jahren hat der VHP Büros in vielen Dörfern in Uttar Pradesh eröffnet. Es ist ein enges Netz von Spitzeln.

Der VHP wurde einst als Unterorganisation des RSS gegründet, eine Art paramilitärische Pfadfinderorganisation und ideologische Heimat der Hindu-Nationalisten. Mahatma Gandhis Mörder kam aus ihren Reihen. Der politische Arm des RSS ist Modis BJP. Religion, Politik, beides vermischt sich gerade in Indien.

Streunende Kühe auf einer Strasse in Lucknow.

Streunende Kühe auf einer Strasse in Lucknow.

Hindustan Times

Aussterbende Spezies

Für Twiari gibt es keine «streunenden» Kühe, nur «hilflose» Kühe, das ist ihm wichtig. Er sagt, der Grund für die hilflosen Kühe in ganz Uttar Pradesh sei, dass sie einst auch als Lasttiere verwendet wurden. Tatsächlich gibt es in Indiens Landwirtschaft immer weniger Kühe und Ochsen, die Pflüge ziehen – Traktoren übernehmen diese Aufgabe, und die Rinder werden auch deswegen fortgetrieben. Tiwari sagt: «Die indische Kuh ist eine aussterbende Spezies. Einst gab es auch viele Dinosaurier. Aber weil die Menschen sie nicht beschützten, verschwanden sie. Beschützen wir die indische Kuh nicht, wird es sie in 50 oder 100 Jahren nicht mehr geben.»

Deshalb betreibt der VHP Gaushalas, Gnadenhöfe für alte Tiere. Die Regierung von Uttar Pradesh unterstützt sie dabei. 570 Gnadenhöfe gibt es im Gliedstaat laut der Regierung, hinzu kommen provisorische, kleinere Aufnahmezentren. Seit neustem werden Bauern auch aufgefordert, streunende Kühe zu adoptieren, 103 000 Kühe sind laut der Regierung so untergekommen. Behalten die Bauern ihre alte Kuh, erhalten sie täglich 30 Rupien für Futter, umgerechnet etwa 35 Rappen. Tiwari sagt, das sei nicht genug, aber immerhin etwas.

Der oberste Kuh-Verantwortliche in Uttar Pradesh heisst Shyam Nandan Singh, er wohnt in einem Hochhaus in Lucknow, in dem vor allem Politiker hausen. Auf derselben Etage sei kürzlich jemand ermordet worden, erzählt Singhs Assistent, «in der Politik ist alles möglich». Singhs Wohnzimmer ist dekoriert mit mehreren Keramikkühen. Singh, 85, ist Chef der Kuh-Kommission, die für die Gnadenhöfe und das Kuh-Adoptionsprogramm in Uttar Pradesh zuständig ist.

Er hat eine seiner Keramikkühe auf den Stubentisch gestellt und streichelt über deren Hörner. «Hier sind die Antennen. Sie absorbieren das Sonnenlicht. Deshalb ist die Milch der indischen Kuh leicht gelblich», sagt Singh. Singh glaubt wie viele tiefgläubige Hindus an die heilenden Kräfte der Kuh – ihre Milch beuge Krebs vor, ihr Dung schütze gegen Strahlung, ihr Urin sei gesund. Allerdings heilt nur die indische Kuh, westliche Holstein-Kühe sind einfach nur Kühe.

Eine Statue des Affengottes Hanuman mit Kuh und Kalb.

Eine Statue des Affengottes Hanuman mit Kuh und Kalb.

Alf Jacob Nilsen / Imago

Heilende Kühe

Die Verehrung der Kuh hat auf dem indischen Subkontinent eine lange Tradition. Die Vedas, die ersten Schriften des Hinduismus, entstanden über tausend Jahre vor Christus. Schon damals wurde die Kuh als Mutter und als heilig verehrt, die geklärte Butter, das Ghee, war Teil von religiösen Ritualen. Ob die Kuh damals noch gegessen wurde, ist heute Teil von gehässigen, religiös befrachteten Debatten. Der Vegetarismus als zentraler Teil des Hinduismus kam wohl erst später auf. Erst wenige hundert Jahre alt ist die Idee, Kühe notfalls auch mit Gewalt zu schützen: Im 19. Jahrhundert patrouillierten erstmals Kuh-Rächer in Indien, es gab Ausschreitungen gegen Muslime und die britischen Besetzer.

55 Millionen Franken gab Uttar Pradesh allein im Jahr 2019 für den Schutz der Kuh aus. In Uttar Pradesh lebt rund ein Drittel der Menschen unter der Armutsgrenze. Mittlerweile versucht Singh, die Gnadenhöfe selbsttragend zu machen. Er will die Rohstoffe aus den Gnadenhöfen verkaufen, er lässt seinen Assistenten gleich mehrere Produkte bringen: Bodenreiniger, Hände-Desinfektionsmittel, Aftershave – alles versetzt mit Kuhurin. Dieser wirke antibakteriell. Auch der Dung lässt sich zu Geld machen, davon ist Singh überzeugt: An seiner Wand hängt eine braune Uhr, sie ist aus Kuhdung geformt, Narendra Modis Gesicht ist aufs Ziffernblatt gedruckt.

Der Schutz der Kühe ist ziemlich teuer geworden. Die Strassenkühe sind doch nicht verschwunden. Und jetzt, während in Uttar Pradesh gewählt wird, drohen sie zum Politikum zu werden. Die Sozialistische Partei veranstaltet Bauernmärsche, sie droht, die Streuner bis vor den Regierungspalast in Lucknow zu treiben. Bisher intervenierte stets die Polizei.

Geschmückte Kühe an einem Erntefest im Gliedstaat Karnataka.

Geschmückte Kühe an einem Erntefest im Gliedstaat Karnataka.

Hindustan Times / Getty

Singh weiss, wie Politik funktioniert. Bis er 2019 die Kuh-Kommission übernommen hat, organisierte er die Wahlkämpfe der BJP in Uttar Pradesh. «Die Kühe sind kein Thema bei den Wahlen», sagt er und klingt ein wenig wie die Fussballfunktionäre, die ständig sagen, dass Sport und Politik gar nichts miteinander zu tun hätten. Es gehe bei den Wahlen um Arbeitslosigkeit und Armut, sagt Singh, aber eigentlich geht es in Uttar Pradeshs Politik kaum je um Inhalte.

In Uttar Pradesh wählen die Menschen entlang der Kastengrenzen. Die BJP überzeugte bei den letzten Wahlen mit einem gewieften Whatsapp-Wahlkampf an die Adresse der benachteiligten Kasten. Diesen wurde versprochen, dass sie in Zukunft mehr bekämen. Diesmal will die Partei gleich alle Hindus hinter sich scharen, da braucht es einen gemeinsamen Feind: die Muslime. Und natürlich grosse ideologische Würfe: In Ayodhya wird endlich der Ram-Tempel gebaut, am Geburtsort des Gottes hatte zuvor eine Moschee gestanden. Und natürlich die Kühe: Der Chefminister Yogi Adityanath wird nicht müde zu betonen, was er alles für diese Geschöpfe getan und dass er zahlreiche illegale Schlachthäuser geschlossen habe.

Während der zweiten Covid-19-Welle im vergangenen Frühling, als in Uttar Pradesh der Sauerstoff für Menschen knapp war, versprach Adityanath, jede Gaushala werde mit Fiebermessern für Kühe ausgestattet und zudem mit einem Apparat, um den Blutsauerstoffgehalt der Kühe zu überprüfen.

Ein Arbeiter in einem der «Gnadenhöfe» für Kühe im Gliedstaat Maharashtra.

Ein Arbeiter in einem der «Gnadenhöfe» für Kühe im Gliedstaat Maharashtra.

Allison Joyce / Getty

Hungernde Kühe

Einer dieser Gnadenhöfe der Regierung steht ausserhalb des Dorfes Bhagwantapur. Rund 100 Kühe harren hier auf einem grossen Feld am Dorfrand aus, umhegt von einem schmutzigen Wassergraben. Der riesige Stall hat nur ein Dach, die Wände wurden nie fertig gebaut. Oft verschwindet das Geld für die Kühe in den Taschen von Regionalpolitikern. Der Boden ist staubig und sandig, und durch das matte Fell der Kühe drücken die Rippenbögen.

«Du weisst nie, welche aggressiv ist», sagt Sundar Lal, 47, er ist einer der Wächter des Gnadenhofs. Er rät, den Kühen nicht zu nahe zu kommen, sie hätten zu wenig zu essen. Pro Kuh gibt’s drei bis vier Kilo Heu am Tag, in der Schweiz wäre es gut doppelt so viel.

Ein anderer Wächter sagt, hier hätte es Platz für bis zu 500 Kühe, aber was solle man ihnen denn verfüttern? Seit vier Jahren arbeiten sie hier, verbringen ihre Tage auf den Erdwällen, die um die Wassergräben aufgeschüttet sind. Unter einer Plastikblache liegt eine kranke Kuh, manchmal zucken die Beine. Der Tierarzt hat versprochen, vorbeizukommen. Eine Krähe pickt an einem halb toten Kalb. Lal sagt: «Wenn jemand eine Kuh hat, soll er sich selber um sie kümmern. Denn hier kümmert sich niemand.»

Bei der letzten Viehzählung im Jahr 2019 offenbarte sich etwas Eigenartiges: Obwohl sie geschützt sind wie nie, ist die Zahl der Kühe in Uttar Pradesh insgesamt gesunken. Die Bauern haben sich Büffel angeschafft. Die sind nicht heilig.