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Moral zu predigen; — aber Sie haben mich schmerzlich
enttäuscht!"
Doktor Kretschmar war durch die Nachricht von dem
neuen Verbrechen, das man seinem Klienten zur Last
legte, wirklich erschüttert worden. Er that sich auf seine
durchdringende Menschenkenntnis etwas zu gute; auch
hatte er mehrfach bewiesen, daß er ein scharfer Beobachter,
ein feingeschulter, geistvoller Psycholog war. Selten hatte
er sich für die Persönlichkeit eines Angeklagten so unmittel«
bar interessiert, wie für Lichert, der mehr tölpelhaft und
brutal als verworfen aussah. Er hatte mit einer Warme
plaidiert, die nicht ohne Einfluß auf das Strafmaß ge«
blieben war, wenngleich die Schuldfrage keine Debatte
mehr zuließ. Ie öfter er mit Lichert gesprochen, um so
lebhafter war er von der Meinung durchdrungen, der
Mensch müsse an jenem Abend, als er das Kronheimer
Herrenhaus ansteckte, moralisch nicht zurechnungsfähig ge-
wesen sein.
Ietzt aber war das anders. Ein Raubmord, ein feiger,
erbärmlicher Raubmord! So gründlich also hatte sich
Doktor Kretschmar verrechnet! Er schämte sich der früher
empfundenen Sympathie; der Stolz des anständigen Menschen
war ebenso heftig in ihm verwundet, wie die reizbare
Eitelkeit des Iuristen und Diagnostikers. Er kam jetzt
nur, um in ganz geschäftsmäßiger Art seine Pflicht zu
thun, die Entlastungsmomente rein mechanisch zusammen-
zustellen, im übrigen aber dem Gang der Ereignisse kalt-
blütig zuzuschauen.
„Ia wohl, entsetzliche Überraschungen," wiederholte der
Angeschuldigte. „Gott sei Dank, daß Sie kommen! Mit
dem Herrn Untersuchungsrichter ist kein vernünftiges Wort