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rot teils vor Gemütsbewegung, teils durch die Stockungen,
die ihr das ungewohnte ,enge' Kostüm wachrief. Sie trug
einen saatgrünen Rock, ein kirschbraunes Mieder, eine Art
Flügelhaube und weiße baumwollene Handschuhe, die das
Vermächtnis eines besonders faustkräftigen Kutschers zu
sein schienen. Die Tochter, eben so häßlich von Angesicht,
wie die feiste Mama, aber jugendlich»drall und mit schalk-
haften Augen, die keck in die Welt blickten, sah in dem
einfachen Kleide aus schwarzbraunem Nesseltuch ganz
reputierlich aus. Beim Anblick der immer wachsenden
Menschenmenge verlor sie allmählich die angekünstelte
Sicherheit, bis ihr die Mutter in dem saatgrünen Falten-
rock einen Stoß mit dem Ellbogen gab und ihr zuraunte:
„Sei nicht so fad. Avollonia!"
„Wart's nur ab, Mutter!" sagte das Mädchen. „Was
sollt' ich mich fürchten? Ich hab' ja nichts Ehrloses auf
dem Gewissen. Aber im ersten Moment fährt's Einem
doch so durchs Herz . . . Lieber schon wär' mir's halt,
ich hätt' können daheim bleiben!"
Der hohe, vornehme Herr, der jetzt aus dem Wagen
stieg und rechts und links einen Gruß erwiderte, war
Herr Gyskra, der Ober»Staatsanwalt.
Eine sonderbare Bewegung ging durch die Menge.
Man fühlte hier deutlich heraus: das Publikum dürstete
förmlich nach Licherts Verurteilung. In Herrn Gyskra,
der die Anklage führte, erblickte diesmal selbst der be-
schränkteste Polizeifeind den Vertreter des Rechts, den
Beschützer der Ordnung und Sicherheit.
„Der läßt die Canaille nicht durchschlüpfen!" rief
ein Schustergeselle; und die Marktweiber, die das gehört
hatten, starrten dem Mann, der mit so ruhigem Ernste