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der Selbstsucht; wir Männer jedoch kennen was Höheres!
Gerade weil ich erregt bin, üb' ich nun doppelte Vor-
sicht! Die Gerechtigkeit läuft eher Gefahr nach der anderen
Seite: ich werde zu mild sein!'
Von dieser zukünftigen Milde war allerdings, wie er
jetzt nach der Treppe des Iustizpalasts einbog, wenig zu
spüren. Energisch, beinah stampfend, schritt er die Stufen
hinauf und verschwand, einmal noch sich ärgerlich umschauend,
im Vestibulum,
Gleich hinter dem Oberst von Rheuß kam eine hoch»
gewachsene, schöne Blondine, voll, üppig, von tizianischem
Inkarnat. Neben ihr, mit den Symptomen einer sich
langsam entwickelnden Gicht, wankte ein breitschultriger
fünfzigjähriger Mann, dickbäuchig, mit gelblichen Hänge»
backen.
Der Mann war der Oberlondorfer Kronenwirt, und
das Mädchen war feine Tochter, — ,die Braut des Ge-
mordeten', wie man im Publikum wissen wollte. Ein
wundervolles Geschöpf! Und just auf dem Weg zu diesem
berauschenden Weibe mußte der arme Künstler so schauder-
haft enden! Gott sei Dank, daß es dem bübischen Mörder
nun endlich straff an den Kragen ging!
Es folgten jetzt unter der Masse der Zuschauer, die
sich bei Zeit einen guten Platz sichern wollten, vier oder
fünf unscheinbare Personen mit blauen Zetteln, vermut-
lich Zeugen.
Dann aber kam wieder ein Paar, Mutter und Tochter,
das, langsam dahinwandelnd, die allgemeinste Aufmerk»
samkeit erregte.
Die Mutter war eine festlich geschmückte vierzigjährige
Bäuerin von nahezu übermenschlichem Körperumfang, hoch»