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Was die Aussage der Apollonia Seissert betraf, so
konnte die Staatsanwaltschaft nicht leugnen, daß dies
Novum die Situation erheblich verwickle. Es liege viel»
leicht kein ernstlicher Grund vor, die Glaubwürdigkeit des
Mädchens in Frage zu ziehen; trotzdem müsse die Staats»
anwaltschaft die Herren Geschworenen dringend zur Vor-
sicht ermahnen. Die Zeugin Seiffert behaupte mit großer
Bestimmtheit, den Angeklagten wiedererkannt zu haben.
Wenn nun auch die Persönlichkeit Licherts schon vermöge
ihrer herkulischen Größe und Breite sich unschwer ein»
präge, so lehre doch die Erfahrung, daß beim vermeint-
lichen Wiedererkennen einmal gesehener Individuen häusig
die Selbsttäuschung eine bedenkliche Rolle spiele. Man
konnte zwar einwerfen, das wäre doch ein erstaunlicher
Zufall, wenn sich der Angeklagte hier eine Sccne rein
aus den Fingern gesogen hätte, die einer andern, um
die nämliche Zeit wirklich passierten so zum Verwechseln
gleiche! Aber es galt vielleicht auch in dieser Beziehung
das klassische Wort, daß zuweilen das Unwahrscheinliche
wahr sei. . .
Am Schlüsse des Plaidoyers erklärte die Staatsanwalt-
schaft, auf einen bestimmten Antrag Verzicht zu leisten.
Die Herren am Richtertisch hatten den Eindruck, als
habe der Ober»Staatsanwalt die allerdings halb schon
verlorene Sache nicht gerade glücklich angepackt. Herr
Gyskra war freilich für seine manchmal schier zu weit
gehende Objektivität bekannt: diesmal jedoch lieferte er ja
fast der Verteidigung die Gesichtspunkte, aus denen sie
vorgehen konnte . . .
Das Plaidoyer des Ober»Staatsanwalts war auffallend
kurz gewesen, auch nicht so frisch und belebt, wie man