durch welche
mit Genehmigung der philosophischen Facultä,t
der
Halle a. S.,
Heynemann'sche Buchdruckerei (F. Beyer).
1887.
UniversitätsBibliothek
Freiburg i.Br.
Um eine Analyse der Begriffe, welche der Mathematik zu Grunde liegen, der elementaren Wahrheiten, auf welchen sie auferbaut ist und der Methoden, durch welche sie jederzeit als das Muster streng-wissenschaftlicher Deduction gegolten hat, bemühte man sich von Alters her, ja seit Jahrtausenden immer von Neuem. Und es geschah dies nicht etwa ausschliesslich von Seiten der Mathematiker, sondern viel mehr noch von Seiten der Metaphysiker und Logiker, welche aus der Fülle der hierher gehörigen Probleme, je nach dem besonderen Interesse, das sie antrieb, bald dieses, bald jenes herausgriffen und zum Gegenstande specieller Untersuchung machten. In der That handelt es sich hierbei nicht um Fragen, die allein oder hauptsächlich den Mathematiker angehen. Ein flüchtiger Blick auf die Geschichte der Philosophie lehrt, wie die Auffassungen bezüglich des theoretischen Charakters der Mathematik in einer wesentlichen und oft bestimmenden Art auf die Gestaltung bedeutender philosophischer Weltanschauungen eingewirkt haben. In gegenseitigem Widerstreite glaubten die verschiedenartigsten philosophischen Richtungen sich auf das Zeugnis der Mathematik berufen zu dürfen, sowohl Rationa

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listen als Empiristen, sowohl Phänomenalisten als Realisten, und selbst die Skeptiker scheuten diesen Kampfplatz nicht. Insbesondere traten seit Kant die mathematisch-philosophischen Streitfragen immer mächtiger in den Vordergrund. Für Kant selbst bilden Untersuchungen über die Natur der mathematischen Erkenntnisse die Fundamente seiner Erkenntnistheorie.
In Deutschland war es in jüngster Zeit hauptsächlich der vielverbreitete Neu -Kantianismus, welcher, in dem Bestreben die Grundlagen der Kantischen Vernunftkritik von Neuem zu sichern und zumal dem von England herübergekommenen Empirismus gegenüber zu stützen, sich genötigt sah, jenen Fragen vorzügliche Aufmerksamkeit zuzuwenden. Nicht ohne Einfluss blieben hierbei die in England durch viele Jahre und mit grossem Scharfsinn fortgeführten Discussionen zwischen Whewell, Hamilton und seinen Schülern, als den Repräsentanten der Kaneschen Ideen auf der einen Seite, und den von J. Stuart Mill geführten Denkern der empiristischen Richtung auf der andern Seite.
Ausser dem engbegrenzten Kreise von Fragen, auf welche sich diese erkenntnistheoretischen Streitigkeiten ursprünglich bezogen, gab es aber noch eine Anzahl erheblich schwierigerer, welche zunächst nur von mathematischen Fachmännern behandelt wurden, späterhin jedoch die allgemeinere Aufinerksamkeit auf sich zogen und dem philosophischen Denken neues Material darboten.
Die Interessen, von denen geleitet die Mathematiker in so vielfache Berührung mit der Philosophie kamen, hatten die Quelle in dem Stande ihrer eigenen Wissenschaft.
Es ist bekannt, welch grossartigen Aufschwung die Mathematik im Verlaufe der letzten Jahrhunderte genommen hatte, wie eine Reihe neuer und weittragender Werkzeuge der Untersuchung erfunden und eine schier unübersehbare Fülle bedeu

tender Erkenntnisse gewonnen worden war. Man versteht es leicht, wie in früherer, schöpfungsfreudiger Zeit, als es noch galt die grossen Gedanken eines Newton und Leibnitz auszugestalten und durch sie immer neue Wissengebiete zu befruchten, Reflexionen über die logische Natur all der räthselhaften Hilfsbegriffe, zu deren Einführung und consequenten Verwendung man sich gedrängt sah, gegenüber dem Streben nach Resultaten, nach Entdeckungen, nach Auswertung des wunderbaren Werkzeuges zurücktreten musste. Erst später, als die hauptsächlichsten oder nächstliegenden Consequenzen der neuen Principien gezogen waren, als die Fehler, welche in Folge der Unklarheit über die Natur der verwendeten Hilfsmittel und die Grenzen der Zuverlässigkeit der Operationen entstanden, immer häufiger wurden, da erwachte stets lebhafter und endlich unabweisbar das Bedürfnis nach logischer Klärung, Sichtung und Sicherung des Gewonnenen; nach einer scharfen Analyse der zu Grunde liegenden und der vermittelnden Begriffe ; nach logischer Einsicht in die Abhängigkeit der verschiedenen, da nur lose zusammenhängenden, dort wieder unentwirrbar verschlungenen mathematischen Disciplinen; und endlich nach einer streng deductiven Entwickelung der ganzen Mathematik aus möglichst wenigen, durch sich selbst einleuchtenden Grundsätzen.
Seit Anfang dieses Jahrhunderts ist die Zahl solcher mathematisch-logischen Arbeiten ins Unabsehbare gewachsen. Die eine verspricht uns ein vollkommen consequentes System der Mathematik; die andere eine Klarstellung des Verhältnisses der allgemeinen Arithmetik zur Geometrie; wieder andere versuchen die Aufhellung jener dunkeln, scheinbar widerspruchsvollen und gleichwohl der Analysis unentbehrlichen Hilfsbegriffe, wie des Imaginären, des Irrationalen, des Differentials
und Integrals, des Continuirlichen u. s. f.; wieder andere —
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und deren Zahl ist Legion— behandeln die Axiome der Geometrie, insbesondere Euelides XI. Axiom, versuchen es zu beweisen oder vorgebliche Beweise zu widerlegen, oder endlich durch fictive Constructionen von Geometrien ohne dieses Axiom, dessen Entbehrlichkeit und bloss inductive Gewissheit, gegenüber den Behauptungen seiner a priori'schen Notwendigkeit darzuthun.
An dieser innerhalb der Mathematik entstandenen Literatur musste naturgemäss die Philosophie unserer Zeit lebhaften Antheil nehmen und dies nicht bloss mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der Metaphysik, sondern auch auf diejenigen der Logik.
In der That, seitdem die neuere Logik ,im Gegensatze zu der älteren ihre wahre Aufgabe als die einer practischen Disciplin (einer Kunstlehre des richtigen Urtheilens) erfasst hatte, und einer allgemeinen Methodenlehre der Wissenschaften als einem ihrer vorzüglichsten Ziele zustrebte, fand sie mannigfache und dringende Anlässe, auf die Fragen nach dem Charakter der mathematischen Methoden und der logischen Natur ihrer Grundbegriffe und Grundsätze ihr besonderes Augenmerk zu richten. So nehmen denn im Zusammenhange metaphysischer und logischer Werke derartige Erörterungen eine beträchtliche Ausdehnung ein, 'während überdies eine grosse Zahl philosophischer Specialabhandlungen bald diese bald jene Frage des Grenzgebietes zwischen Philosophie und Mathematik bearbeiten.

Auch die neuere Psychologie blieb diesem Gebiete nicht gänzlich fremd, sei es auch nur, um einige Fragen, die entweder mit den metaphysischen und logischen vermengt behandelt oder überhaupt noch nicht aufgeworfen worden waren — nämlich die Fragen nach dem phänomenalen Charakter und dem psychologischen Ursprung der Vorstellungen von Raum, Zeit, Zahl, Continuum u. A. — einer gesonderten Untersuchung zu unterwerfen. Dass aber die Ergebnisse derselben auch für die Metaphysik und Logik von Bedeutung sein müssen, dies ist jedem Einsichtigen klar.
Nach so vielen, von verschiedenen Seiten und in verschiedenen Epochen unternommenen Bemühungen sollte man erwarten, dass wenigstens in Rücksicht auf die hauptsächlichsten der bezüglichen Probleme Lösung und allgemeine Uebereinstimmung erzielt worden sei. Doch die Jahrhunderte flossen dahin und jene Fragen blieben bestehen; ja zu den alten traten nur noch neue hinzu Ob unsere Zeit in dieser Hinsicht glücklicher sein wird? Sicherlich! Gar viele Anzeichen sprechen dafür, es möchte ihr in diesen, wie in anderen Beziehungen, vergönnt sein, alte Räthsel zu lösen. Und gewiss berechtigen uns zu dieser Ueberzeugung die grossen Fortschritte, welche die wissenschaftliche Psychologie und Logik in letzter Zeit gemacht haben. Die Hilfsmittel liegen dort bereit, nm endgiltige Entscheidungen zu treffen; aber freilich muss man sie auch dort suchen. Durch nominalistische oder formalistische Kunststücke wird es nie gelingen, sachliche Schwierigkeiten hinwegzuzaubern.
Im Hinblick auf den Stand der Dinge gelangten so Manche zu der Meinung, die philosophisch-mathematischen Streitfragen wären nichts weiter als ein unentwirrbarer Knäuel überflüssiger Subtilitäten, den zu lösen es der Mühe nicht lohne; um sie unbekümmert nähme die Wissenschaft ruhig ihren Fortgang.
Indessen, diese Ansicht ist thatsächlich falsch. Sähen wir auch davon ab, dass die Lösung jener Subtilitäten ein wesentliches Interesse der Philosophie bildet, so lehrt auch der blosse Hinweis auf die vielen, folgenschweren Irrthümer, welche innerhalb der Mathematik selbst durch falsche Auffassungen des Differentialbegriffs u. s. f. begangen worden sind, wie sehr eine derartige Ansicht fehl geht.
Was nun die Gründe anlangt, welche bewirkten, dass es in Betreff so wichtiger Probleme noch immer an völlig befriedigenden und jeden Zweifel ausschliessenden Lösungen mangelt, so liegen sie, wie eine genauere Kritik beweisen würde, theils in hemmenden, metaphysischen Vorurtheilen, theils in. Fehlern der Methode.
Es war in letzterer Hinsicht insbesondere auch die zusammenhangslose Vereinzelung der Versuche ein Hemmnis des Fortschrittes gewesen. Der systematisch-innige Connex innerhalb jener Kette von Problemen hätte eine naturgemässe Reihenfolge in der Bearbeitung erfordert; in Wirklichkeit folgte man aber den jeweiligen besonderen Interessen und suchte für sich zu begreifen, was nur in seiner Abhängigkeit von Anderem begriffen werden konnte. Ein vorzügliches Beispiel hierfür bietet uns die berühmte Riemann-Helmholtesche Raumtheorie. Die Methode, die sie zur Lösung der an die Axiome der Geometrie sich anknüpfenden Principienfragen für ausgezeichnet geeignet hält und auch verwendet, ist die analytisch-rechnende. Uelmholtz rühmt wiederholt als den besonderen Vorzug der analytischen Geometrie, dass sie mit reinen Grössenbegriffen, rechne und zu ihren Beweisen keine Anschauung brauche (cf. „lieber die thatsächlichen Grundlagen der Geometrie. Wissenschaftliche Abhandlungen II. Band, p. 611). Hiedurch entfiele für sie — der rein anschaulich verfahrenden Euclidischen Geometrie gegenüber — „die Gefahr, dass sich gewohnte Anschauungsthatsachen als Denknotwendigkeiten unterschieben könnten". (cf. lieber den Ursprung der geometr. Axiome. Vorträge und Reden II, p. 16).
Indessen hier erheben sich alsbald schwere Zweifel. Setzt nicht auch die analytische Methode in der Geometrie gewisse Anschauungstlastsachen voraus? Offenbar. Wie gelangte man denn sonst zu jenen allgemeinen Vorschriften, nach denen jedes geometrische Gebilde auf algebraischem Wege durch eine Gleichung definirt, und dann aus jeder algebraischen Beziehung auf eine geometrische geschlossen werden kann? Beruht denn nicht das bekannte Grund- und Hilfsmittel der analytischen Geometrie , welche die erwähnte Umsetzung allererst ermöglicht , nämlich die eindeutig charakterisirende Darstellung eines jeden Raumpunktes durch die Masszahlen seiner Abstände von drei festen , Coordinatenaxen auf Eigenthürnliehkeiten unserer Raumvorstellung, und könnten wir diese anderswoher abstrahiren, als von Anschauungen ? Welches sind also die Anschauungsthatsachen, auf welchen im letzten Grunde die Möglichkeit, die allgemeine Arithmetik auf die Geometrie anzuwenden, fusst ?
Diese und so manche andere Fragen wurden aber vorher gar nicht aufgeworfen, geschweige denn gelöst. Es ist offenbar, so lange das Verhältnis der Arithmetik zur Geometrie nicht vollkommen geklärt ist, bietet uns kein Versuch, die Principienfragen der Geometrie auf analytischem Wege zu beantworten, Sicherheit und Gewähr dafür, dass wir nicht etwa im eirkel geführt werden — wie dies nach meiner TJeberzeugung bei der Riemann-Helmholtz'schen Theorie thatsächlich der Fall ist.
Eine endgiltige Beseitigung der wirklichen und eingebildeten Schwierigkeiten in Betreff all' der Probleme, welche das Grenzgebiet zwischen Mathematik und Philosophie constituiren, wird erst dann zu erwarten sein, wenn in naturgemässer Reihe zunächst die an sich einfacheren, logisch früheren Begriffe und Relationen, hierauf in weiterer Folge die complicirteren und abhängigeren, und zwar nach Massgabe ihrer Abhängigkeit, der Analyse unterworfen werden. Das erste Glied dieser Reihe ist aber der Begriff der Zahl.
In gewisser Hinsicht scheint dies auch anerkannt zu sein. Es ist heutzutage eine allgemeine Ueberzeugung, dass eine strenge und c,onsequente Entwickelung der höheren Analysis (der gesammten arithmetica universalis im Sinne Newtons) mit Ausschluss aller geometrischen Hilfsvorstellungen allein von der elementaren Arithmetik ausgehen müsse, in welcher sie gründe. Diese aber hat in der That ihr alleiniges Fundament in dem Zahlbegriffe, oder genauer gesprochen, in jener endlos fortzusetzenden Reihe von Begriffen, welche die Mathematiker „ ganze positive Zahlen" nennen. Alle die complicirteren und künstlicheren Bildungen, die man gleichfalls Zahlen nennt, die gebrochenen und irrationalen, die negativen und complexen Zahlen, haben ihren Ursprung und Anhalt in den elementaren Zahlbegriffen und den sie verbindenden Relationen; mit den letzteren Begriffen fielen auch die ersteren, ja fiele die gesammte Mathematik fort. Mit der Analyse des Zahlbegriffes muss daher jede Philosophie der Mathematik beginnen.
Diese Analyse ist das Ziel, welches die vorliegende Abhandlung sich stellt. Die Hilfsmittel, die sie hierzu verwendet gehören der Psychologie an und müssen es, wenn eine solche Untersuchung zu festen Resultaten gelangen soll.
Freilich möchte man im ersten Momente fragen: was hat die Zahl überhaupt mit der Psychologie zu thun ? Dieser Frage möchten wir die andere entgegenstellen : was haben Raum, Zeit, Farbe, Intensität etc. mit der Psychologie zu thun ? Ist nicht der Raum das Object der Geometer, die Farbe das der Physiker u. s. f.?
Und doch zu welcher ausgedehnten und täglich noch wachsenden psychologischen Literatur haben diese Begriffe Anlass gegeben.
InBeziehung auf den Zahlbegriff ist dies freilich nicht der Fall ; aber sehr mit Unrecht. In Wahrheit ist nicht nur
die Psychologie für die Analyse des Zahlbegriffes unerlässlich, sondern diese Analyse gehört auch in die Psychologie hinein. Was den ersten Theil dieser Behauptung anbelangt, so muss diese Arbeit selbst ihn begründen; bezüglich des zweiten, sei bemerkt, dass Analysen elementarer, d. h. nur wenige Stufen der Complication darbietender Begriffe (und solcher Art sind doch die Zahlbegriffe) gegenwärtig mit zu den wesentlicheren Aufgaben der Psychologie gerechnet werden dürfen. Wie vermöchte sie denn sonst Einsicht in das innere Gefüge der vielverschlungenen Gedankengewebe zu gewinnen, welche das Materiale unseres Denkens bilden? Das Verständnis der ersten und einfachsten Zusammensetzungsweisen von Vorstellungen ist der Schlüssel für das Verständnis jener höheren Complicationsstufen, mit welchen unser Bewusstsein als mit einheitlich und fest gewordenen Bildungen beständig operirt.
Die vorstehenden Ausführungen mögen dazu dienen, die ausschliessliche Beschäftigung mit einer so speciellen Frage, wie es diejenige nach dem Inhalt und Ursprung des Begriffes der Zahl ist, zu rechtfertigen; sie sollten in kurzem Ueberblicke die Bedeutung derselben für die Philosophie einerseits und die Mathematik andererseits charakterisiren und zugleich die tieferen Anlässe andeuten, welche den Verfasser zu den nachfolgenden Untersuchungen hingeführt haben.
Erstes Kapitel.
Die Analyse des Begriffes der Anzahl nach Urspr
und Inhalt.Das gemeine Bewusstsein findet zwei Zahlenarten vor: die Cardinalzahlen und Ordinalzahlen. Erstere sind in der Regel gemeint, wenn schlechthin von ‚Zahlen' oder ‚An zahlen' gesprochen wird.
Auf eine nahe Verwandtschaft der beiden Arten von Zahlbegriffen scheint bereits die gewöhnliche Sprache einen besonderen Nachdruck zu legen durch die Aehnfichkeit. der
Benennungen: die Laut- und Schriftzeichen für die Anzahlen
gehen durch geringfügige Modificationen in diejenigen der
entsprechenden Ordinalzahlen über (1, 2, 3, 4, ; 1,
2, 3te, 4te
) Wie sich die Anzahlen auf Mengen be
•ziehen, so die Ordinalzahlen auf Reihen. Reihen sind aber
geordnete Mengen, und so möchte man von vornherein meinen, dass die Begriffe der Ordinalzahlen nur durch gewisse Beschränkimgen aus denen der Anzahlen hervorgehen. Indessen halten berühmte Forscher wie W. R. Hamilton, H. Grassmann, Helmholtz, L. Kronecker u. A. den Ausgang von
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der Reihe für den naturgemässen und vindiciren hiedurch den Ordinalzahlen (oder verwandten Begriffen) die Superiorität rücksichtlich der Allgemeinheit. Die Frage, ob die eine oder die andere dieser Ansichten, oder ob nicht vielleicht eine dritte, welche eine logische Unterordnung der einen Klasse von Begriffen unter die andere überhaupt leugnet, den Vorzug verdiene, soll uns späterhin beschäftigen. Indem wir nun mit der Analyse der Anzahlbegriffe den Anfang machen, wollen wir für keine dieser Ansichten praejudicirt haben. Mit Rücksicht auf die Beziehung der beiden Zahlarten auf die Vorstellungen von Mengen einerseits, und von Reihen andererseits — wie sie schon der oberflächlichen Betrachtung sich aufdrängt — erschiene die knapp charakterisirende Bezeichnung der einen als ‚Mengenzahlen' der anderen als ‚Reihenzahlen' recht passend. —
Sämmtliche Autoren namhaft zu machen, welche den Begriff der Zahl auf denjenigen der Menge gründen, wäre kaum durchführbar. Schon Eu cl i d definirt (im Eingange des VII. Buches d. Eiern.): MoMg- iarz, xoc,9‚' gxao--row rtv övrcox
-row rtv övrcox
4ain dl rö lz,uoviecov oexelmayoyLocke giebt in seinem Hauptwerke über den menschlichen Verstand ausgedehnte Beschreibungen des psychologischen Vorganges beim Zählen, ohne aber seine Ansicht über den Inhalt des Zahlbegriffes in Form einer Definition zusammenzufassen. Doch im Zusammenhang seiner Ausführungen werden die Zahlen charakterisirt als aus Einheiten zusammengesetzte Vorstellungen („ complex ideas" , „collective ideas"),
genauer als „ideas for several collections of units, distinguished
one from anotherm (Essay, B. II, oh. 4; oh. 5).
Leibniz definirt in einem Briefe an Thomasius, fast gleichlautend mit Robb es: „ Numerum definio nimm, et unum, et nimm etc. sen unitatee (Op. ph. Erdmann p. 53). In den Nouveaux Essais II, eh. 16 (Op. ph. Erdm. p. 243) tritt auch die Definition der (ganzen) Zahl als Vielheit (multitude) von Einheiten auf. Gegen die frühere besteht offenbar kein erheblicher Unterschied; nur das Wort Vielheit ist dort vermieden, der Plural bezeichnet es aber mit.
An diesen hervorragenden Beispielen mag es genügen.
Die gewöhnlichste Bestimmung lautet: Die Zahl ist eine
Vielheit von Einheiten. Statt ‚Vielheit' sagt man auch Mehrheit, Inbegriff, Aggregat, Sammlung, Menge etc.; lauter Ausdrücke, die gleichbedeutend oder sehr nahe verwandt sind, obschon nicht ohne merkliche Nüancen.*)
Freilich ist mit dieser Definition nicht viel gethan. Was
ist ‚Vielheit' und was ‚Einheit'? Darun. eben drehen sieh die
meisten Controversen. Auch scheint ‚Vielheit' nahezu dasselbe
zu bedeuten wie Anzahl. In der That wird der Name Anzahl
in einem weiteren Sinne (dann nämlich, wenn er nicht eine
bestimmte Zahl bezeichnen soll) so gebraucht, dass er vollkommen gleichbedeutend wird. mit ‚Vielheit', Manche Autoren
meinten darum von jener Definition (wenn man es so nennen
will) abgehen zu müssen. Indessen wird hier eben ‚Anzahl'
in einem weiteren Sinne gebraucht. Jedenfalls ist soviel
sicher, dass die conexetem Phänomene, an welche wir be

*) Um diese auszuschliessen, unterlassen wir es bis auf Weiteres einen dieser Namen allein zu gebrauchen, werden jedoch, aus Gründen, die später sich ergeben werden, die Worte ‚Inbegriff' und ‚Vielheit' bevorzugen.
stimmte Zahlenaussagen knüpfen, concrete Vielheiten, d. h. Mengen von bestimmt gegeben Dingen sind, also eben dieselben Phänomene, welche auch unter den Allgemeinbegriff der Vielheit fallen. Und gerade hierin liegt die Nötigung, von diesen Phänomenen auszugehen und zuzusehen, wie an ihnen sowohl der unbestimmtere und allgemeinere Begriff, welcher jener Reihe von Namen: Vielheit, Mehrheit, Menge u. s. f., zu Grunde liegt, abstrahirt wird, als auch die bestimmten Zahlbegriffe.
Die erste Frage, die wir zu beantworten haben ist diejenige nach dem Ur sprun ge der in Rede stehenden Begriffe.
Die concreten Phänomene, welche für die Abstraction derselben die Grundlage bilden, sind, wie eben bemerkt, Inbegriffe
bestimmter Gegenstände; wir fügen aber auch hinzu: vollkommen willkürlicher und beliebiger. In der That , für die
Bildung concreter Inbegriffe giebt es in Beziehung auf die zu
befassenden Einzelinhalte keinerlei Schranken. Jedes Vorstellungsobject ob physisch oder psychisch, abstract oder concret, ob durch Empfindung gegeben oder durch Phantasie etc.
kann zusammen mit einem jeden und beliebig vielen anderen
zu einem Inbegriffe vereinigt werden.*) Z B Einige bestimmte
Bäume; Sonne, Mond, Erde und Mars; ein Gefühl, ein Engel,
der Mond und Italien u. s. W. Immer können wir in diesen
Beispielen von einem Inbegriffe, von einer Mehrheit, von einer
bestimmten Zahl sprechen. Auf die Natur der einzelnen Inhalte
kommt es also in keiner Weise an.
*) Es bedarf wohl kaum der Erinnerung, dass wo es sich um objectiv-wirkliche Dinge handelt, diese doch durch Vorstellungen in unserem Bewusstsein repräsentirt sein müssen. Der vorgestellte Inbegriff verhält sieh dann zu dein intendirten Inbegriff der wirklichen Dinge, wie sich auch die Vorstellung eines einzelnen wirklichen Dinges zu diesem selbst verhält.

Wenn aber dies, wie gelangt man ausgehend von concreten Inbegriffen zum Allgemeinbegriff der Mehrheit, des Inbegriffes, der Zahl? Welcher Abstractionsprocess soll ihn liefern ? Was behält man bei der Abstraction übrig als den Inhalt des Begriffes, und was ist dasjenige, wovon abstrahirt wird?
Begriffe, so nehmen wir an, entstehen durch die Vergleichung von speciellen Vorstellungen, die unter sie fallen; von den differenten Merkmalen absehend, hält man die gemeinsamen fest, und sie sind es, welche den Allgemeinbegriff constituiren.
Versuchen wir nun dieser Anweisung hier Folge zu leisten. Dass uns zunächst die Vergleichung der einzelnen Inhalte, welche wir in den gegebenen Inbegriffen vorfinden, nicht den Begriff der Vielheit, des Inbegriffes, der Zahl ergeben würde, dies ist selbstverständlich, und es war (denn auch dieses kam vor) widersinnig dergleichen zu erwarten. Nicht jene Einzelinhalte sind ja die Unterlagen der Abstraction, sondern die eoncreten Inbegriffe als Ganze, in welchen sie zusammengefasst sich finden. Aber auch durch deren Vergleichung scheint das gewünschte Resultat nicht hervorgehen zu wollen. Die Inbegriffe, könnte man sagen, bestehen doch bloss aus den Einzelinhalten. Wie sollten sich also irgend welche gemeinsame Merkradle der Ganze n herausheben lassen, wenn die sie cortstituirenden T h eile völlig heterogen sein dürfen?
Indessen mit Leichtigkeit löst sich diese scheinbare Schwierigkeit. Es ist rnisverstindlich zu sagen, die Inbegriffe beständen bloss aus den Einzelinhalten. Wie leicht man es auch übersieht, so ist doch über die Einzelinhalte hinaus etwas da, was bemerkt werden kann und was in allen Fällen, wo wir von Inbegriffen sprechen, notwendig vorhanden ist: die Verb in d un g der einzelnen Elemente zu dem Ganzen. Und es ist hier, wie bei manchen anderen Klassen von Relationen; es kann bei der grössten Verschiedenartigkeit der bezogenen Inhalte, doch in Hinsicht auf die verbindenden Relationen Gleichartigkeit bestehen. So giebt es Gleichheiten, Steigerungen, continuirliche Verrnittelungen auf ganz heterogenen Gebieten, sie können sowohl zwischen sinnlichen als auch zwischen psychischen Phänomenen statt haben. Es ist also sehr wohl möglich, dass zwei Ganze als solche gleichartig sind, obschon die sie constituirenden Theile beiderseits völlig heterogen sind.
Jene, in allen Fällen, wo von Vielheiten die Rede ist, gleichartigen Verbindungen sind nun die Grundlagen für die Bildung des Allgemeinbegriffes der Vielheit.
Was die Art des Abstractionsvorganges, der unseren Begriff liefert, anbetrifft, so werden wir sie am besten characterisiren können, indem wir auf die Entstehungsweise anderer Zusammensetzungsbegriffe (Ganzen) hinweisen. Achten wir
B. auf die Zusammenhänge der Punkte einer Linie, der Momente einer Zeitdauer, der Farbennüancen einer continuirlichen Farbenreihe, der Tonqualitäten einer Jonbewegung" u. s. f., dann erlangen wir den Begriff der continuirlichen Verbindung und vermittelst desselben den Begriff des Continuum. Dieser Begriff ist nicht etwa als ein besonderer und für sich bemerkbarer Theilinhalt in der Vorstellung eines jeden concret gegebenen Continuum enthalten. Was wir im concreten Falle bemerken, das sind einerseits die Punkte, resp. die ausgedehnten Theile, andererseits die eigenthihnlichen Verbindungen derselben. Diese letzteren nun sind das überall, wo wir von Continuis sprechen, gleichartig Vorhandene, wie verschieden auch immer die absoluten Inhalte, welche sie verknüpfen, (die Orte, Zeiten, Farben, Töne etc.) sein mögen. Mit Reflexion auf diese characteristische Verbindung von Inhalten entsteht nun der Begriff Continuum, als eines Ganzen, dessen Theile eben in der Weise continuirlicher Verbindung geeinigt sind.
Oder betrachten wir, um ein anderes Beispiel zu nehmen, die ganz eigenthümliche Art, in welcher bei beliebigen Gesichtsobjecten die räumliche Ausdehnung mit der Farbe und diese wieder mit der Intensität in gegenseitiger Durchdringung verknüpft ist. Mit Hinblick auf disse Verbindungsart, welche wir mit F. Brentano die metaphysische nennen wollen, können wir nun wieder den Begriff eines Ganzen bilden, dessen Theile eben auf solche Weise geeinigt sind.
Wir können überhaupt ganz allgemein sagen: Wo uns eine besondere Klasse von Ganzen entgegentritt, da kann der Begriff derselben nur entstanden sein durch die Reflexion auf eine wol characterisirte, bei jedem Ganzen dieser Klasse gleichartige Verbindungsweise von Theilen.
Wie ist es nun in dem Falle, der uns beschäftigt? Auch von einem Inbegriffe können wir sagen, er bilde ein Ganzes. Die Vorstellung des Inbegriffes gegebener Objecte ist eine Einheit, in welcher die Vorstellungen der einzelnen Gegenstände als Theilvorstellungen enthalten sind. Freilich ist diese Verbindung von Theilen, wie wir sie bei jedem beliebigen Inbegriffe vorfinden, eine im Vergleiche mit anderen Fällen der Verbindung lose und äusserliche zu nennen, ja so sehr, dass man fast Anstand nehmen möchte, hier überhaupt noch von einer Verbindung zu sprechen. Aber wie auch immer, es ist eine besondere Einigung da, und sie musste auch als solche bemerkt worden sein, da sonst nimmermehr der Begriff des Inbegriffs und der Vielheit hätte entstehen können. Ist also unsere Auffassung richtig, dann ist der Begriff der Vielheit durch die Reflexion auf die besondere und in ihrer Besonderheit wol bemerkbare Einigungsweise von Inhalten, wie sie jeder concrete Inbegriff (concrete Vielheit) aufweist, in analoger Weise entstanden, wie der Begriff irgend einer anderen Art von Ganzen durch Reflexion auf die ihnen eigenthümliche Verbindungsweise.
Wir wollen von nun an zur Bezeichnung der Verbindung, welche den Inbegriff charakterisirt, den Namen c 011 e c t iv e Verbindung verwenden.
Ehe wir unsere Entwickelungen fortsetzen, wird es gut sein, einen naheliegenden Einwand abzuwehren. Man könnte uns folgendes entgegenhalten: Wird die Vielheit als ein Ganzes definirt, dessen Theile durch collective Verbindungen geeinigt sind, dann ist diese Definition eine blosse Diallele. Denn sprechen wir von „Theilen", so stellen wir doch eine Vielheit vor, und da die Theile nicht individuell bestimmte sind, so stellen wir diese Vielheit allgemein vor. Wir erklären somit Vielheit durch sich selbst.
Indessen so viel Scheinbarkeit dieser Einwand auch haben möge, wir können seine Triftigkeit nicht zugeben. Zunächst sei bemerkt, dass es uns nicht um eine D e finit io n des Bgriffes Vielheit sondern um eine p sy ch o 1 o gis eh e Char a kt eristik der Phänomene, auf welchen die Abstraction dieses Begriffes beruht, zu thun ist Alles was diesem Zwecke dienen kann, müssen wir daher willkommen heissen. Der Plural „Theileu implicirt nun allerdings (abgesehen von seiner Correlation zum Begriff des Ganzen) die allgemeine Vorstellung einer Vielheit; aber er drückt nicht aus, was diese Vielheit als Vielheit besonders charakterisirt. Indem wir hinzusetzten, die Theile seien collectivisch verbunden, wiesen wir auf den Punkt hin, auf welchen unser besonderes Interesse ruht und vermöge dessen die Vielheit eben als Vielheit anderen Ganzen gegenüber charakterisirt wird.
2Auf die Frage nach der Art der Einigung, welche im Inbegriffe vorliegt ist die kürzeste Antwort der directe Hinweis auf die Phänomene. Und wirklich handelt es sich hier um letzte Thatsachen. Indessen hiermit sind wir nicht der Aufgabe enthoben, diese Verbindungsart genauer zu betrachten, ihre charakteristischen Verschiedenheiten von anderen hervorzuheben, zumal falsche Charakteristik und Verwechslungen mit anderen Relationsgattungen häufig genug vorgekommen sind. Wir wollen zu diesem Zwecke eine Reihe möglicher und zum Theil wirklich aufgestellter Theorien prüfen, deren jede die collective Einigung in einer anderen Weise charakterisirt und mit Beziehung darauf auch in einer anderen Weise den Ursprung der Begriffe Vielheit und Zahl zu erklären versucht
Die Verbindung der Vorstellungen zu einem Inbegriff, so könnte Jemand sagen, verdient doch kaum den Namen einer Verbindung. Was liegt denn vor, wenn wir von einem Inbegriff beliebiger Gegenstände sprechen ? Nichts weiter als dies, dass diese Gegenstände zusammen in unserem Bewusstsein da sind. Die Einheit der Vorstellungen des Inbegriffs besteht also nur in der Angehörigkeit zu dem sie umfassenden Bewusstsein. Immerhin ist dies aber eine Thatmche auf die man achten kann; und so entstehen denn mit Reflexionen auf sie jene Begriffe, um deren Analyse es sich hier handelt.
Diese Ansicht ist offenbar irrthümlich. Gar mannigfache Phänomene bilden in jedem Momente den Bestand unseres Gesammtbewusstseins; aber es gehören besondere Interessen dazu, gewisse Vorstellungen aus dieser Fülle herauszuheben und collectivisch zu einigen. Und dies geschieht, ohne dass etwa alle übrigen Vorstellungen aus dem Bewusstsein entschwänden. Wäre jene Ansicht richtig, dann gäbe es in jedem Momente nur einen einzigen Inbegriff, bestehend in der Gesammtheit der vorhandenen Theilinhalte unseres Gesammtbewusstseins ; während wir doch jederzeit und nach Willkür mannigfache Inbegriffe bilden, einen bereits gebildeten durch Hinzufügen neuer Inhalte erweitern, durch Hinweglassung anderer verengen können (ohne dass die ausgeschiedenen aus dem Bewusstsein treten müssten) ; kurz wir sind uns einer Spontaneität bewusst, die sonst undenkbar wäre.
Jene Ansicht enthält aber, in ihrer allgemeinen und unbestimmten Fassung, überdies eine Absurdität. In der That, gehören nicht Continua zu dem Bestande unseres Bewusstseins mit ihrer unendlichen Menge von Punkten ? Wer hätte sie jemals in der Weise eines Inbegriffs wirklich vorgestellt?
Es ist wichtig hervorzuheben, dass einem Inbegriffe nur solche Inhalte als Elemente angehören können, deren wir uns als für sich bemerkter bewusst sind; alle anderen Inhalte aber, die nur als nebenbei bemerkte da sind, und die entweder überhaupt nicht für sich bemerkt werden können (wie die Punkte der Continua), oder die bloss momentan nicht für sich bemerkt werden, alle diese können nicht die Elemente abgeben, aus denen ein Inbegriff sich constituirt.
Dies alles wird wol leichte Zustimmung finden, und der Vertreter der eben kritisirten Ansicht dürfte seine Behauptungen alsbald dahin restringiren, dass unter dem "umfassenden Bewusstseine, welches die Vorstellungen zu einer Vielheit einige, ein besonderer Bewusstseinsakt zu verstehen sei und nicht das Bewusstein im weitesten Sinne als Gesararatheil unserer psychischen Phänemene; so dass es sich darnach um Einheit in einem umfassenden Bemerken, oder um eine Einheit des
Interesses und dergl. handeln würde. Auf eine genauere Er
2*Ist uns ein Inbegriff von Inhalten gegenwärtig, was sollten wir anderes bemerken als dies, dass jeder Inhalt da ist, z ugl ei c h mit jedem anderen. Die zeitliche Coexistenz der Inhalte ist unerlässlich für die Vorstellung ihrer Vielheit. Nun erfordert zwar ein jeder zusammengesetzte Denkakt die Coexistenz seiner Theile; aber während in anderen Fällen neben der Gleichzeitigkeit noch besondere Beziehungen oder Verbindungen vorhanden sind, welche die Theile einigen, so ist es eben die auszeichnende Eigenthümlichkeit bei der Vorstellung des Inbegriffs, dass sie nichts weit er enthält als die gleichzeitigen Inhalte. Daher bedeute auch Vielheit in abstracto nichts anderes als: gleichzeitiges Gegebensein irgend welcher Inhalte.
Diese Ansicht verfällt, wie man leicht einsieht, eben denselben Einwänden als die vorhergehende, überdies aber manchen anderen. Es wäre überflüssig die ersteren zu wiederholen; von den letzteren genügt es hervorzuheben, dass Inhalte gleichzeitig vorstellen noch nicht heisst Inhalte als gleich zeiti ti ge vorstellen. Damit z. B. die Vorstellung einer Melodie zu Stande komme, müssen die einzelnen Töne, welche sie zusammensetzen, auf einander bezogen werden. Jede Beziehung erfordert aber das gleichzeitige Vorhandensein der bezogenen Inhalte in einem Bewusstseinsakte. Es müssen also auch die Töne der Melodie gleichzeitig vorgestellt werden. Keineswegs aber als gleichzeitige; ganz im Gegentheil erscheinen sie uns

als in einer gewissen zeitlichen Aufeinanderfolge befindlich.
Nicht anders ist es in dem Falle, wo wir eine Vielheit von Gegenständen vorstellen. Dass wir die Gegenstände gleichzeitig vorstellen müssen, ist gewiss; dass wir sie aber nicht als gleichzeitige vorstellen, vielmehr besondere Reflexionen erforderlich sind, um jene Gleichzeitigkeit des Vorstellen.s der Objecte zu bemerken, dies beweist unmittelbar der Hinweis auf die innere Erfahrung.
Eine dritte Ansicht gründet sich ebenfalls auf die Zeit als einen unaufhebbaren psychologischen Factor. In directem Gegensatze zu der vorhergehenden argumentirt sie wie folgt:
Vermöge der discursiven Beschaffenheit unseres Denkens können überhaupt nicht mehrere von einander verschiedene Inhalte zugleich gedacht werden. Unser Bewusstsein kann in jedem Momente nur mit einem Gegenstande beschäftigt sein. Jede beziehende und höhere Geistesthätigkeit wird nur dadurch möglich, dass die Gegenstände, auf die sie geht, zeitlich nacheinander gegeben sind. So ist denn jedes complicirte Denkgebilde, jedes aus irgend welchen Theilen zusammengesetztes Ganze ein aus einfachen Factoren successive gewordenes; wir haben es stets mit schrittweisen Processen und Operationen zu thun, welche in der Zeit verlaufend, sich immer mehr verschlingen und erweitern. Im Besonderen setzt also auch jede Collection ein Colligiren, jede Zahl ein Zählen voraus, und hiermit ist notwendiger Weise eine zeitliche Anordnung der zusammengefassten Gegenstände resp. der gezählten Einheiten gegeben. Aber noch mehr. Der Inbegriff ist die loseste Verbindungsart von Theilen zu einem Ganzen, und zwar sprechen wir von einem Inbegriff oder einer Vielheit dann, wenn Inhalte durch keinerlei weit er e Verbindungen geeinigt sind als durch die unaufhebbare Anschauungsform der Zeit, wenn sie also bloss in der zeitlichen Folge, mit welcher sie in das Bewusstsein eintraten, in ihm vorhanden sind. Demgemäss folgt auch: Vielheit in ab stracto ist nichts weiter als Succession Succession irgend welcher für sich bemerkten Inhalte. Die Zahlbegriffe aber repräsentiren die bestimmten Vielheits- oder Successionsformen in abstracto.
Um die Aufmerksamkeit nicht durch wenig fruchtbare Einzelkritiken zu zersplittern, habe ich es vorgezogen, statt die einzelnen Autoren, welche solche oder ähnliche Theorien vertreten haben, der Reihe nach zu kritisiren, vielmehr die Ansicht selbst, welche ihnen mehr oder minder deutlich zu Grunde liegt, so klar und consequent als irgend möglich darzustellen und an ihr die Kritik zu üben.
Die Ansicht, die hier bekämpft werden soll, fusst auf
groben psychologischen und logischen Irrthümern.
Zunächst beruft sie sich auf die psychologische Thateache
der Enge des Bewusstseins, dieselbe jedoch übertreibend und
falsch interpretirend. Es ist wahr, die Zahl der besonderen
Inhalte, welchen wir in jedem Augenblicke mit Aufmerksamkeit
zugewendet sein können, ist eine höchst beschränkte, ja sie
schrumpft bei höchster Concentration des Interesses auf einen einzigen zusammen. Aber unwahr ist es, dass wir uns in einem
und demselben Momente ni e mehr als eines Inhaltes b e wusst sein können. Ja gerade die Thatsache des beziehenden
und verknüpfenden Denkens, sowie überhaupt aller complicirteren
Geistes - und Gemüthsthätigkeiten , auf welche jene Theorie
sich berief, lehrt evident die völlige Absurdität ihrer Auffassung Ist jederzeit nur Ein Inhalt unserem Bewusstsein gegenwärtig, wie sollten wir auch nur die einfachste Beziehung
bemerken können? Stellen wir den einen Beziehungspunkt
vor, so ist der andere entweder noch nicht oder nicht mehr
in unserem Bewusstsein. Einen Inhalt, dessen wir uns nicht
bewusst sind, der also für uns überhaupt nicht ist, können wir
nun doch nicht verknüpfen mit dem einzigen, der uns gegenwärtig
und wirklich gegeben ist. Der Hinweis auf das zeitliche
Nacheinander der zu beziehenden Vorstellungen kann also gar
nichts dazu beitragen, die Möglichkeit des beziehenden Denkens
zu erklären.
Aber lehrt denn nicht die Erfahrung (so antwortet vielleicht der Gegner) , dass wir thatsächlich immer nur eine
gegenwärtige Vorstellung haben können, und dass es sehr wol
möglich ist, sie mit vergangenen in Beziehung zu bringen?
Damit, dass eine Vorstellung vergangen ist, hört sie also
keineswegs auf, zu sein.
Indessen, man sieht leicht ein, dass eine solche Antwort
auf Missdeutungen der Erfahrung beruhen würde. Man darf
nicht verwechseln gegenwärtige Vorstellungen mit Vorstellungen
von Gegenwärtigem und vergangene Vorstellungen mit Vorstellungen von Vergangenem. Nicht jede gegenwärtige Vorstellung ist, wie wir hier von neuem betonen müssen, eine
Vorstellung von Gegenwärtigem. Gerade alle Vorstellungen,
die auf Vergangenes gehen, bilden eine Ausnahme; denn sie
alle sind in Wahrheit gegenwärtige Vorstellungen. Erinnere
ich mich z. B. eines Liedes, das ich gestern gehört habe, so
ist diese Erinnerungsvorstellung doch eine gegenwärtige Vorstellung; nur wird sie von uns auf Vergangenes bezogen. Nun
liegt natürlich keinerlei Schwierigkeit mehr darin, dass wir Vorstellungen gegenwärtiger Inhalte und solche vergangener Inhalte in Beziehung zu bringen vermögen. Indem wir dies
thun, sind sie ja alle gleichzeitig in unserem Bewusstsein vorhanden, sie sind insgesammt gegenwärtige Vorstellungen.
Dagegen können wir vergangene Vorstellungen weder unter
einander noch mit gegenwärtigen beziehend verbinden ; denn
als vergangene sind sie unwiederbringlich und für immer dahin
Die vermeintliche Erfahrungsthatsache , welche der Gegner
im Auge hat, käme also darauf zurück, dass, wenn immer wir
eine Mehrheit von Inhalten vorstellen, stets nur einer ein
gegenwärtiger wäre, während alle anderen grössere oder geringere zeitliche Unterschiedenheftela aufwiesen. Natürlich
würde dann jedes aus gesonderten (für sich bemerkten) Theilen
zusammengesetzte Vorstellungsganze en t s tanden sein müssen
durch succ es sive Akte des Bemerkens und Beziehens der einzelnen Theilinhalte, während das Ganze selbst, als ein fertiges
und gewordenes, alle Theile zu gleicher Zeit enthielte, nur
versehen mit ungleichen zeitlichen Bestimmtheiten.
Es ist nun allerdings sicher, dass schon bei einer sehr
mässigen Anzahl von Inhalten ein zusammenfassendes Bemerken
derselben nur dadurch möglich ist, dass sie successive oder in
ganz kleinen Gruppen aufgefasst und festgehalten werden.
Andererseits scheint aber doch die Erfahrung genug deutlich
zu lehren, dass wir zwei, drei oder vier Inhalte sehr einfacher
Art gleichsam mit einem Blick übersehen und collectivisch in
eine «Vorstellung einigen können, ohne dass wir uns irgend
welcher successiven Fortschritte von einem zum anderen bewusst wären: (Man betrachte z. B. eine kleine Gruppe sehr
nahe stehender scharfer Punkte auf einer Tafel.)
Wie auch immer, wir können es als eine Thatsache anerkennen, dass für die Entstehung der Mengen- und Za,h1vorstellungen (bestenfalls die ersten ausgenommen) die zeitliche
Succession ein unerlässliches psychologisches Erfordernis ist.
Man ist daher ganz berechtigt Mengen und Zahlen als Resultate von Proeessen, und sofern unser Wille hierbei betheiligt
ist, als Resultate von Thätigkeiten, von , Operationen des
Colligirens resp. Zählens, zu bezeichnen.
Aber dies ist auch Alles, was wir zugestehen können.
Nur dies Eine und nicht mehr ist bewiesen, dass die Succession
in der Zeit eine unaufhebbare p sy oho logische Vor b eding un g für die Bildung weitaus der meisten Zablbegriffe

und concreten Vielb eiten, so gut wie aller complicirteren Begriffe überhaupt bildet. Sie haben ein zeitliches Werden, und
durch dieses erhält jeder Bestandtheil des gewordenen Ganzen
eine andere zeitliche Bestimmtheit in unserer Vorstellung. Ist
aber damit auch erwiesen, dass die zeitliche Ordnung in den
Inhalt jener Begriffe eingehe oder gar die besondere Relation
sei, welche die Wahrheiten als solche anderen Zusammensetzungsbegriffen gegenüber charakterisire ? In der That begnügte
man sich häufig mit solch' dürftigen Argumentationen, ohne
zu bedenken, dass die Zeit genau in gleicher Weise für jedes
höhere Denken die Grundlage bilde und, man z. B. mit eben
demselben Rechte folgern könnte, die Beziehung zwischen
Praemissen und Schlusssatz sei identisch mit ihrer zeitlichen
Aufeinanderfolge. Indess von dieser offenbaren Absurdität ist
die Passung, welche wir der Zeit-Theorie für unsere Zwecke
gaben, bereits befreit. Ihre Behauptung geht nur dahin, dass
der Fall des Inbegriffes (oder der Mehrheit) vor demjenigen
irgend eines anderen zusammengesetzten Ganzen dadurch ausgezeichnet sei, dass bei ihm blosse Succession der Theilinhalte vorliege, bei anderen Ganzen jedoch überdies noch
irgend welche an d er e Verbindungen.
Sie argumentirt also nicht schlechtweg: weil das Zählen
zeitliche Succession der Vorstellungen erfordert, ist die Zahl
die zusammenfassende Form des Successiven in abstracto;
sondern sie beruft sich auf den thatsächlichen Unterschied
zwischen Inbegriff (oder collectives Ganze) und jeder andern Art
von Ganzen, also auf das Zeugnis der inneren Erfahrung.
Indess nicht mit Recht. Immer wieder ist in dieser Hinsicht ein Luftturn auf der einen Seite begangen, auf der anderen
gerügt worden: zeitlich succedirende Inhalte wahrnehmen heisst
noch nicht die Inhalte als zeitlich succedirende wahrnehmen.
Die Uhr schlägt ihr einförmiges Tik-Tak ; ich höre die

einzelnen Schläge, aber es braucht mir nicht beizufallen, auf
ihre zeitliche Folge zu achten. Aber selbst wenn ich darauf
merke, -wie ein Schlag nach dem andern tönt, so ist damit
noch nicht irgend eine Anzahl von Schlägen herausgehoben,
durch ein zusammenfassendes Bemerken zu einem Inbegriff
geeinigt. Oder ein anderes Beispiel! Die Augen schweifen
nach den verschiedenen Richtungen herum, bald diesen, bald
jenen Gegenstand fixirend und solchergestalt nacheinander
mannigfaltige Vorstellungen liefernd. Aber ein besonderes Interesse ist notwendig, wenn die zeitliche Folge für sich bemerkt
werden soll. Und um alle oder einige der bemerkten Gegenstände für sich festzuhalten, auf einander zu beziehen und in
einen Inbegriff zusammenzufassen, dazu gehören abermals besondere Interessen und besondere, auf diese herausgehobenen Inhalte
und keine anderen gerichtete Akte des Bemerkens. Selbst
wenn die zeitliche Folge, in welcher Gegenstände colligirt
werden, immer beachtet würde, so bliebe sie also doch noch
unfÄhig für sich allein die Einheit des collectiven Ganzen zu
begründen. Da wir aber nicht einnal dies zugestehen können,
dass das zeitliche Nacheinander auch nur als consta,nter und
allezeit beachteter Bestandtheil in die Vorstellung eines jeden
Inbegriffs eingehe, so ist klar, dass es um so weniger in den
entsprechenden Allgemein begriff (Vielheit, Zahl) irgendwie
eintreten kann.
Mit vollem Recht sagt Herbart (Psychologie als Wissenschaft. 1825. II, p. 162): „ Die Zahl hat mit der Zeit nicht
mehr gemein, als hundert andere Vorstellungsarten, die auch
nur allmälig konnten erzeugt werden".
Würde es sich bloss darum handeln, das Phänomen zu beschreiben, welches vorliegt, wenn wir eine Vielheit vorstellen,
dann müssten wir gewiss der zeitlichen Modificationen, welche
die einzelnen Inhalte erlitten hatten, Erwähnung thun, obgleich

sie an sich nicht besonders bemerkt waren. Aber abgesehen
davon, dass ebendasselbe für jedes zusammengesetzte Ganze
gilt, so muss doch überhaupt unterschieden werden zwischen
dem Phänomen als solchem und dem, wozu es uns dient oder
was es uns bedeutet; und demgemäss auch zwischen der psychologischen Beschreibung eines Phänomens und der Angabe
seiner Bedeutung. Das Phänomen ist die Grundlage für, die
Bedeutung, nicht aber sie selbst.
Ist ein Inbegriff von Gegenständen A, B, C . . . und F
in unserer Vorstellung, dann wird, mit Rücksicht auf den successiven Process, durch welchen das Ganze entsteht, schliesslich vielleicht nur F als Empfindungsvorstellung gegeben sein,
die übrigen Inhalte aber bloss als Phantasievorstellungen in
zeitlich und auch sonst inhaltlich modificirter Weise Gehen
wir umgekehrt von F aus gegen A hin, dann ist das Phänomen offenbar ein anderes. Alle diese Unterschiede hebt die
logische Bedeutung auf. Die modificirten Inhalte dienen als
Zeichen, als Vertreter für die unmodificirt gewesenen. Indem
wir die Inbegriffsvorstellung bilden, achten wir nicht darauf,
dass mit den Inhalten im Fortgange des Colligirens Veränderungen vorgehen ; wir meinen sie wirklich festzuhalten und zu
einigen, und so ist denn der logische Inhalt jener Vorstellung
nicht etwa F, jüngstvergangenes E, früher vergangenes D u. s. f.
bis zu dem am stärksten veränderten A, sondern nichts Anderes als (A, B, 0, D, E, F); die Vorstellung befasst jeden
einzelnen der Inhalte ohne Rücksicht auf die zeitlichen Unterschiede und die darauf gegründete zeitliche Anordnung.
Wir sehen also die Zeit spielt für unsere Begriffe nur die
Rolle einer psychologischen 17 orbed in gni). g und dies in
doppelter Weise:
1) Die meisten, ja fast alle Vielheitsvorstellungen sind
Resultate von Processen, sind aus den Elementen succ es

siv e entstandene Ganze. Insofern trägt jedes Element eine
andere zeitliche Bestimmtheit an sich.
2) Es ist unerlässlich, dass die in der Vorstellung der
Vielh eit geeinigten Theilvorstellungen schliesslich doch zugleich
in unserem Bewusstsein vorhanden sind.
Wir erkannten aber, dass weder die Gleichzeitigkeit, noch
die Aufeinanderfolge in der Zeit in den In h alt der Vielb.eitsund somit auch der Zahlvorstellungen irgendwie eintreten.
Bekanntlich schien bereits Aristoteles Zeit und Zahl in
nahen Zusammenhang zu bringen, indem er definirte: die
Zeit ist die Zahl der Bewegung nach früher und später. Indessen erst seit Kant ist es allgemeiner üblich geworden, die
,Anschauungsform' der Zeit als das Fundament des Zahlbegriffes zu betonen. Gewiss geschah dies weit mehr zu Folge
der Autorität seines Namens als der Kraft seiner Argumentationen. Rin en ernstlichen Versuch einer logischen oder psychologischen Analyse des Zahlbegriffes enden wir bei Kant nicht.
Einheit, Vielheit und Allheit bilden nach seiner Metaphysik
die Kategorien der Quantität. Die Zahl ist das transscendentale Schema der Quantität. Ausführlich spricht sich Kant
in der Kritik der reinen Vernunft (Werke, Flartenstein'sche
Ausgabe, III. Bd. p. 144) folgendermassen aus: „ Das reine
Schema der Grösse aber (quantitatis), als eines Begriffes des
Verstandes ist die Zahl, welche eine Vorstellung ist, die
die successive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen)
zusammenbefasst; also ist die Zahl nichts Anderes als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt, dadurch dass ich die Zeit selbst in der
Apprehension der Anschauung erzeuge".

Die Stelle ist dunkel und will sich auch nicht recht mit
den Erklärungen, welche Kant von der Function des Schema
giebt, zusammenreimen. Diese selbst sind freilich nicht gerade
uniform. So sagt er (ebdas. p. 142): "Wir wollen diese formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit, auf welche der
Verstandesbegriff in seinem Gebrauch restringirt ist, das Schema
dieses Verstandesbegriffes . . . nennen". Hingegen heisst es
einige Zeilen weiter: „ Die Vorstellung . . von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein
Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe".
-liebertrügen wir diese letztere Bestimmung auf das Schema
der Quantität, dann müssten wir sagen: die Zahl ist die Vorstellung von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft,
dem Begriff der Quantität sein Bild zu verschaffen. Indessen mit
diesem Verfahren kann doch nur das Zählen gemeint sein. Ist es
aber nicht klar, dass ‚Zahl' und ‚Vorstellung des Zählens' nicht
dasselbe ist? Es ist ferner nicht eben leicht einzusehen, wie
wir a priori, von der Kategorie der Quantität aus, vermittelst
der Zeitvorstellung (als des gemeinsamen Schema aller Kategorien) zu den einzelnen, bestimmten Zahlbegriffen gelangen
sollten; und noch weniger leuchtet die Notwendigkeit ein, die
uns bestimmt, einer concreten Vielheit eine gewisse und stets
dieselbe Zahl zuzuschreiben, die eben, von welcher wir sagen,
sie komme ihr zu.
Die Lehre vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe scheint hier, wie auch sonst, den Zweck zu verfehlen,
für den sie besonders geschaffen wurde.
Wir können davon absehen, sämmtliche Forscher, welche
nach Kant den Zahlbegriff auf die Vorstellung der Zeit gründeten, aufzuzählen. Nur zwei berühmte Namen seien hier
erwähnt. Sir William Rowan Hamilton nennt die Algebra
geradezu ,, tue science of pure time " , auch „ the science of
ord.er in progression" (cf. Hankel, Complexe Zahlensysteme p.17).
In Deutschland ist es H. von Helmholtz, welcher in einer jüngst
erschienenen philosophischen Abhandlung (Philos. Aufsätze zu

Zeller's Jubiläum, I. „Über Zählen und Messen') eine ausführliche Untersuchung über die Grundlagen der Arithmetik und
über die Berechtigung der Anwendung derselben auf physische
Grössen veröffentlicht hat und hierin denselben Standpunkt
vertritt. Bei Gelegenheit anderer Entwicklungen (die Analyse
des Begriffes der Ordinalzahl betreffend) werden wir späterhin
noch Anlass finden, uns mit dieser Abhandlung gründlich zu
beschäftigen.
Scliliesslich sei noch bemerkt, dass überhaupt die meisten
unter den Forschern, welche für die Entwicklung der Zahlbegriffe, sowie der Grundsätze der Arithmetik die Vorstellung
der R e ih e zu Grunde legen, durch die Zeit-Theorie wesentlich beeinflusst waren.
Während Kant die Zahl in eine enge Beziehung zur Zeitvorstellung setzte, meinte F. A. Lange, dass alles, was bei jenem die Zeit leiste, weit einfacher und sicherer aus der Raumvorstellung abgeleitet werden könne. „Schon Baumann" sagt er in den ‚Logischen Studien' (p. 140) „hat gezeigt, dass die Zahl weit besser mit der Raumvorstellung als mit derjenigen der Zeit in Einklang stehe Die ältesten Ausdrücke für die Zahlwörter bezeichnen, soweit wir ihren Sinn kennen, überall Gegenstände im Raum mit bestimmten Eigenschaften, welche der Zahl entsprechen, so z. B. Viereckiges der Zahl vier. Wir sehen daraus auch, dass die Zahl ursprünglich nicht etwa durch systematisches Hinzufügen von Einem zu Einem u. s. w. entSteht, sondern dass jede der kleineren, dem später entstehenden System zu Grunde liegenden Zahlen durch einen besonderen Akt der Synthesis der Anschauungen gebildet wird, worauf dann erst späterhin die Beziehungen der Zahlen zu einander, die Möglichkeit des Addirens u. s. w. erkannt werden'. — „Die algebraischen Axiome beruhen, wie die geometrischen auf räumlicher Anschauung. . . ."
„Es ist der Raumvorstellung eigen, dass sich innerhalb der grossen, allumfassenden Synthesis des Mannigfaltigen mit Leichtigkeit und. Sicherheit kleinere Einheiten der verschiedensten Arten aussondern lassen. Der Raum ist daher das Urbild nicht nur der continuirlichen sondern auch der discreten Grössen, und zu diesen gehört die Zahl, während. wir die Zeit kaum anders als Continuum denken können. Zu den Eigenschaften des Raumes gehören ferner nicht nur die Verhältnisse, welche zwischen den Linien und Flächen geometrischer Figuren stattfinden, sondern nicht minder die Verhältnisse der Ordnung und S teil u n g discreter Grössen. Werden solche discrete Grössen als unter sich gleichartig betrachtet nnd durch einen neuen Akt der Synthesis zusaminengefasst, so entsteht die Zahl als Summe'. (ebd. p. 141.)
Nun noch eine Stelle aus der Geschichte des Materialismus (II, p. 26): „Jeden Zahlbegriff erhalten wir ursprünglich als das sinnlich bestimmte Bild einer Gruppe von Gegenständen, seien es auch Finger oder Knöpfe und Kugeln einer Zählmaschine".
Unsere Kritik wird nicht erst weit nach Anhaltspunkten suchen müssen. Besonderen Anstoss erregt das letzte Citat; denn der uns wohlbekannte Allgemeinbegriff der Zahl erscheint hier als ein individuelles Phänomen, als das sinnlich bestimmte Bild einer Gruppe von Raumdingen. Indessen es mag hier wol nur eine ungenaue Ausdrucksweise vorliegen; die Meinung geht wahrscheinlich dahin, dass die Zahl etwas an derartigen Gruppen Bemerkbares (und zwar in der Weise eines Theilphänomens) und durch Abstraction Herauszuhebendes ist. Es tritt hier deutlich der Einfluss J. St Mill's hervor. Für diesen ist die Zahl eine „physische Thatsache„ein sicht- und fühlbares Phänomen"; sie ist ihm eine sinnliche Eigenschaft, die er (Logik, Gomperz' Übersetzung L Bd. p. 237) auf eine Stufe stellt mit der Farbigkeit, Wägbarkeit u. s. w. Während aber Mill ausdrücklich darauf Verzicht leistet anzugeben, worin der Zahlenunterschied eigentlich bestehe (sei es, dass er dies für allzuschvvierig oder im Hinblick auf die elementare Natur der Phänomene für überflüssig hält), glaubt hingegen Lange dessen Quelle in der Natur und den Eigenschaften der Raumvorst el lung nachweisen zu können. Fassen wir die oben citirten Stellen ins Auge, so finden wir in der That überall die rämnliche Localisation der gezählten Dinge betont. Die räumlichen Verhältnisse der Ordnung und Stellung von discreten, unter sich als gleichartig betrachteten Grüssen, durch einen Akt der Synthesis zusammengefasst — dies wäre der Inhalt der Zahlvorstellung.
Alsbald möchte man aber die Frage aufwerfen: wo sind die 4 Cardinaltugenden, die 2 Praemissen eines Schlusses u. s. w. kcalkürt? Welche räumliche Ordnung und Stellung ist bei irgend beliebigen psychischen Phänomenen die Grundlage der Zahlbezeichnung ? Dieser Einwand würde Lange freilich nicht schrecken; führt er doch alles logische Denken auf Raumanschauung zurück, alles Psychische ist ihm localisht. Mit der Kritik dieser in. sich unklaren und gänzlich haltlosen Ansicht wollen wir uns hier nicht beschäftigen; wir heben nur einige Punkte hervor, die speciell nusere Probleme betreffen.
Es ist klar, selbst wenn wir die Langdsche Grundansicht zugäben, so wäre in Beziehung auf die Raumvorstellung nicht mehr bewiesen, als früher in Beziehung auf die Zeitvorstellung zugestanden ward; sie würde eine unaufhebbare psychologische Vorbedingung des Zahlbegriffes, und dies nicht mehr und nicht anders als wie aller anderen Begriffe bilden. Käme auch allen Inhalten, die wir denkend verbinden, räumliche Bestimmtheit zu, so bliebe es immer noch zweierlei: räumlich vertheilte Inhalte vorstellen und Inhalte nach ihren räumlichen Beziehungen vorstellen. Wie verhält os sich nun, wenn wir irgendwelche Raumdinge collectivisch zusammenfassen oder zählen ? Achten wir da auf die Verhältnisse der Ordnung und Stellung? Geht auf sie das aussondernde Interesse in dem wir die Zahlvorstellungen bilden ? Gewiss nicht. Unendlich viele Stellungen und Ordnungen giebt es, die Zahl aber bleibt unverändert. Zwei Aepfel bleiben zwei Aepfel, ob wir sie nähern oder entfernen, ob wir sie nach rechts verschieben oder nach links, nach oben oder nach unten. Die Zahl hat eben mit räumlichen Lagenbeziehungen nichts zu thun. Mögen immerhin die Relationen der Ordnung und Stellung bei der V or st ell un g einer Vielheit von Raumgegenständen im Phänomen (implicite) mit vorgestellt sein; sicher ist es, dass sie bei der Zählung nicht die Objecte des aussondernden Interesses bilden. Nicht als für sich bemerkte, sondern nur als einschliesslich mitgedaehte Theilvorstellungen sind sie im Phänomen gegeben. Dass die ältesten Ausdrücke für die Zahlwörter auf Gegenstände im Raume hinweisen, mit bestimmten Eigenschaften, welche der Zahl entsprechen ,ist doch keine ernstliche Gegeninstanz' und es bieten sich so naheliegende Erklärungen hiefür, dass wir uns ihrer Besprechung entheben können.
Lange betont aber nicht bloss die Räumlichkeit des Gezählten, sondern er spricht auch von A k t en der Synthesis, durch welche diskrete Grössen zur Zahl zusammengefasst werden. Für unsere gegenwärtige Untersuchung, welcher es hauptsächlich um eine gentilere Charakteristik der collectiven Verbindung zu thun ist, wäre es von Interesse zu erfahren, wie Lange sich die Synthesis des Einzelnen in der Vielheit denkt. Gehen wir aber

die vielfachen Ausführungen, die sich bezüglich des Begriffes der Synthesis in den "Logischen Studien« finden, aufmerksam durch, so zeigt sich eine arge Verwirrung. Es wird dem Leser schon
3an den obigen Citaten aufgefallen sein, dass Lange, während er einmal von Akten der Synthesis spricht, doch ein anderes Mal die Raumvorstellung eine Synthesis nennt.
Schon Kant gebraucht das Wort Synthesis (Verbindung) in einem doppelten Sinne: erstens in dem Sinne der Einheit der Theile eines Ganzen, sei es der Eigenschaften eines Dinges, sei es der Theile einer Ausdehnung, sei es der Einheiten einer Zahl u. s. w.; zweitens in dem Sinne der geistigen Thätigkeit (actus) des Verbindens. Beide Bedeutungen stehen bei Kant dadurch in enger Beziehung, dass nach seiner Ansicht ein jedes Ganze, welcher Art auch immer es sei, ein durch die Selbsttbätigkeit des Geistes aus den Theilen Gewordenes ist.
Synthesis bedeutet ihm also das Verbinden und das Resultat der Verbindung zugleich. Dass wir vermeinen die Verbindungen in den Phänomenen selbst zu bemerken und durch Abstraction herauszuheben, dies ist nur Schein. Wir selbst sind es, die die Verbindungen hineingetragen haben und zwar vermittelst der "reinen Verstandesbegriffe", der Kategorien.
Lange polemisirt gegen die Kant'sche Auffassung von der Synthesis; aber freilich nicht dort wo sie den Tadel verdiente, vielmehr finden wir bei ihm nur Fortschritte der in Unklarheit und Verwirrung. Im Gegensatze zu Kant geht seine Ansicht dahin, dass die Synthesis etwas im Vorstellungsinhalt Bemerkbares ist. Synthesis in diesem Sinne bedeutete eine Relationsvorstellung, und zwar käme, da nach Lange der Raum ‚die anschauliche Form des Ich mit seinem wechselnden Inhalt ist, alle Synthesis schliesslich auf räu mlich e Werbindung und Beziehung hinaus. Aber Synthesis soll auch ein gänzlich im Unbewussten stattfindender Vorgang sein, durch den wir, als Subjec t erst entstehen! Und endlich wird von besonderen (und offenbar bewussten) Akten der Synthesis gesprochen, welche z. B. die Zahlen liefern.
Mit dieser vielsinnigen Verwendung desselben Namens hängen nun wesentliche Unklarheiten zusammen. Wiederholt wird der Raum als das Urbild aller Synthesis bezeichnet, ja als das wahre objective Gegenbild unseres eanscendentalen Ich. Die Eigenschaften des Raumes sollen die Norm aller unserer Verstandesfunctionen bilden *) u. s. f. Ueberall liegt die irrthümliche Anschauung zu Grunde, als ob ein psychischer Akt und sein Inhalt im Verhältnisse der bildlichen Aehnlichkeit zu einander ständen; und die Quelle dieser Absurdität liegt vielleicht nicht zum geringsten Theile in der Aequivocation des Wortes Synthesis, derzufolge es einmal den Beziehungsinhalt, das andere Mal den Beziehungsakt bedeutet.
Sicherlich war aber Lange in diesem Punkte auch durch Baumann, dessen Werk**) er citirt beeinflusst. Baumann nennt die Zahl einerseits das Ergebnis eines Thuns, eines geistigen Entwerfens ; andererseits aber " finden wir die Zahl wieder in der äusseren Welt." Die äussere Erfahrung trägt nach ihm das Mathematische unabhängig von unserem Geiste in sich; auf der anderen Seite bilden wir aber in uns "rein geistige Vorstellungen der Mathematik Hierin soll die Anwendbarbeit der Mathematik auf die Aussenwelt begründet sein.
Bezüglich des Verhältnisses von Raum und Zahl bemerkt Baumann (a. a. 0. II, 670) — und diese Stelle eitirt Lange — Sie [die Zahl] ist mit dem Raum zusammen und überall in ihm, daher die Geometrie auch auf arithmetische Ausdrücke gebracht wird'
Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die Lehre Baumann's, wonach gewissermassen das Mathematische ausser uns durch
3*
das Mathematische in uns erkannt wird (die bedenkliche Ähnlichkeit mit der uralten Empedokleischen Lehre: „ Gleiches wird durch Gleiches erkannt', springt in die Augen) ihrem ganzen Umfange nach einer Kritik zu unterziehen. Soweit sie die Zahl betrifft, und dies allein geht uns (mit Rücksicht auf den Einfluss, den sie auf A. Lange's Theorien ausgeübt hat) hier an, ist sie offenbar unrichtig; sie fusst auf einer irrthümlichen Auffassung des Abstractionsprocesses, welcher die Zahlbegriffe liefert. Weder sind sie ‚rein geistige' Schöpfungen einer ‚inneren Anschauung'; noch kann von einem Wiederfinden derselben in der Aussenwelt und von einem Zusammensein mit und in dem Raume die Rede sein.
Gewiss ist es richtig, dass es sich bei der Bildung von Zahlen wie auch von Vielheiten in concreto nicht um ein passives Aufnehmen oder ein bloss heraushebendes Bemerken eines Inhaltes handelt; wenn irgendwo, so liegen hier spontane Thätigkeiten vor, die wir an die Inhalte knüpfen. Je nach Willkür und Interesse können wir discrete Inhalte zusammenfassen, von den eben zusammengefassten wiederum Inhalte fortlassen oder neue hinzufügen. Ein auf die sämmtlichen Inhalte gerichtetes einigendes Interesse und zugleich mit und in ihm (in jener gegenseitigen Durchdringung, wie sie psychischen Akten eigen ist) ein Akt des Bemerkens heben die Inhalte heraus, und das intentionale Object dieses Actes ist eben die Vorstellung der Vielheit oder des Inbegriffs jener Inhalte. In dieser Weise sind die Inhalte zugleich und zusammen gegenwärtig, sind sie Eins, und mit Reflexion auf diese Einigung gesonderter Inhalte durch jene psychischen Akte entstehen die Allgemeinbegriffe Vielheit und (bestimmte) Zahl.

Entspricht nun dies alles der Wahrheit, dann ist es klar, dass die Bezeichnung der Zahlen als rein geistiger Schöpfungen einer inneren Anschauung eine Uebertreibung und Entstellung des wahren Sachverhaltes involvirt. Geistige Schöpfungen sind die Zahlen, sofern sie Resultate von Thätigkeiten bilden, die wir an concreten Inhalten üben; aber was diese Thätigkeiten schaffen, das sind nicht neue absolute Inhalte, die wir dann irgendwo im Raume oder in der ,Aussenwelt wiederfinden könnten; sondern es sind eigenthümliche Relationsbegriffe, die immer wieder nur erzeugt, aber keineswegs irgendwo fertig vorgefunden werden können.
In welcher Weise sollten auch die denkbaren Zahlen, die wir durch willkürlich combinirende Zusammenfassung räumlicher Inhalte zählen können, in dem Raume enthalten sein? Was anschaulich vorhanden ist, was wir im Raume vorfinden und bemerken können, das sind doch nicht Zahlen an und itr sich, sondern nur Raumgegenstände und deren räumliche Beziehungen. Hiermit ist aber noch keine Zahl gegeben; und ist aber eine Zahl gegeben, dann sind es nicht die räumlichen Synthesen und. können es nicht sein, welche die Zahl (resp. den concreten Inbegriff) als das einigende Band umschliessen. Das Zusammensein von Gegenständen im Raume ist doch noch nicht die collective Einigung in unserer Vorstellung, welche der Zahl wesentlich ist. Diese Einigung wird erst von uns vollzogen durch jenen einheitlich heraushebenden psychischen Act des Interesses und des Bemerken&
Indem Lange dies verkannte, gelangte er dahin, die Raumanschauung als das „Urbild" wie aller Synthesis so auch der Synthesis der discreten Grössen, der Zahlen, zu erklären , und diesem Irrthum leistete die Baumann'sche Lehre vom , Wiederfinden' der Zahl im Raume Vorschub.
Indessen, wir wollen nun die Kritik der Ansichten Lange's und Baumann's abbrechen, zumal sie unseren weiteren Entwinkelungen keine positiven Anregungen darbietet. V.
Bei weitem wissenschaftlicher und plausibler als alle die Theorien, welche bezüglich der Entstehung der Begriffe Vielheit und Anzahl bisher kritisirt wurden, ist diejenige, zu deren Entwicklung wir jetzt übergehen wollen. Damit aber in aller Klarheit hervortrete, ob sie das leiste, was sie verspricht, will ich mich bemühen, ihr eine so consequente Ausbildung zu geben, als irgend möglich, und leiste lieber darauf Verzicht, meine Kritik unmittelbar an irgend eine der Formen, in welchen sie von diesem oder jenem hervorragenden Autor de facto vertreten worden ist, anzuknüpfen. Folgende Argumentation dürfte leicht Zustimmung finden:
Von einem Inbegriffe kann nur da die Rede sein, wo von
einander verschiedene Gegenstände vorliegen. Wären sie
alle identisch, dann hätten wir ja keinen Inbegriff, keine Vielheit von Gegenständen, sondern eben nur Einen Gegenstand.
Diese Verschiedenheiten müssen aber auch bemerkt worden
sein, sonst bildeten die verschiedenen Gegenstände für unsere
Auffassung nur ein unanalysirtes Ganzes, und wir hätten abermals keinerlei Möglichkeit zu der Vorstellung einer Vielheit zu kommen. Also Verschiedenheitsvorstellungen gehören
wesentlich mit zur Vorstellung eines jeden Inbegriffs. Indem
-wir ferner jeden einzelnen Gegenstand desselben von den anderen unterscheiden, ist mit der Vorstellung des Unterschiedes
auch die Vorstellung der Identität jedes Gegenstandes mit sich
selbst notwendiger Weise mitgegeben. In der Vorstellung
einer concreten Vielheit wird also jeder einzelne Gegenstand
sowohl als ein von allen anderen verschiedener, wies auch als
ein mit sich identischer gedacht.
Dies festgestellt, liegt nun, wie es scheint, auch die Entstehung des Allgemeinbegriffes der Vielheit klar zu Tage. In der That , was könnte in allen Fällen, wo wir von Vielheit sprechen, sonst noch Gemeinsames vorhanden sein, als jene Vorstellungen der Verschiedenheit und Identität, nachdem es bekanntlich bei der .Abstraction jenes Allgemeinbegriffes auf die Besonderheiten der ein rein en Inhalte durchaus nicht ankommt? Wir erhalten also, ausgehend von irgend einer concr eten Vielheit, den bestimmten Allgemeinbegriff der Vielheit, unter den sie fällt, d. h. ihre Anzahl, indem wir jeden Inhalt auf jeden anderen unterscheidend beziehen, hiebei aber, völlig abstrahirend von der besonderen Beschaffenheit der coneret gegebenen Inhalte, einen jeden bloss als irgend etwas mit sich selbst Identisches betrachten. Auf diese Weise entsteht der Begriff der Vielheit gewissermassen als die leere Form der Verschiedenheit. Nun ist aber auch der Begriff der Ein la ei t leieht zu erklären. Indem wir zählen, d h. die Zahlenabstraction vollziehen , bringen wir jedes zu zählende Ding unter den Begriff der Einheit, wir betrachten es bloss als Eins. Damit will nichts weiter gesagt sein als eben dies: wir betrachten jedes bloss als etwas mit sieh Identisches und von allem anderen Verschiedenes. Wie das Unterscheiden und Identischsetzen von einander unabtrennbare, sich gegenseitig bedingende Functionen sind, so sind auch die in fteflexion auf diese Functionen gebildeten Allgemeinbegriffe der Vielheit und Einheit von einander abhängige, correlative Begriffe.
Gedanken solcher und ähnlicher Art finden wir besonders in den logischen Werken von W. Stenley Jevons (The principles of science, 2. ed. London 1883) und Chr. Sigwart (Logik, IL Band. Tübingen 1878) wirksam. So heisst es bei Jevons:
„Nunaber is bat another narne for diversity. Exact identity is unity, and with difference arises plurality 4. „Plurality arises when and only when we detect difference" (a. a. 0. p. 156). Hier ist, wie man sieht„ nttmber in dem weiteren Sinne genommen, als gleichbedeutend mit ,plurality'.
Bezüglich der Art der Abstraction, die hier vorliegt, sagt derselbe Autor: „There will now be little difficulty in forming a cher notion of the nature of numerical abstraction. lt consists in. abstracting the character of the difference from which plurality arises, retaining merely the fact.... Abstract number, then, is the empty form of diff er en c e; the abstract number thr e e asserts the existence of marks without specifying their kind.“ (a. a. 0. p. 158.) „Three sounds differ from three colours, or tbree riders from three horses; but they argree in respect of the variety of marks by which they can be discriminated. The symbols 1 +1+ 1 are thus the empty murks asserting the existence of discrimination" (a. a.. 0. p. 159).
Diese Ausführungen leiden aber — die Richtigkeit ihres Fundaments vorausgesetzt, — an wesentlichen Unbestimmtheiten, und zwar machen sich letztere am empfindlichsten dann geltend, wenn wir nach der Entstehung und dem Inhalt der einzelnen Zahlenvorstellungen 2, 3, 4, . fragen. ‚Leere Formen der Verschiedenheit' sind sie doch alle. Was unterscheidet Drei von Zwei, Vier von Drei u. s. f. P Sollen wir da die bedenkliche Antwort geben: bei der Zwei bemerkten wir eine Unterschiedsrelation, bei der Drei zwei, bei der Vier drei u. s. f.?
Die Auskunft, die uns die letzte der citirten Stellen giebt, ist offenbar sehr dürftig. Jene , variety of murks' bedeutet entweder soviel, als wiederum die Zahl, oder sie bedeutet so viel als ‚Form der Verschiedenheit'. Aber wodurch charakterisiren sich psychologisch diese ‚Formen' gegen einander, so dass sie in ihren besonderen Bestimmtheiten erfasst, von einander klar unterschieden und demgemäss auch mit verschiedenen Namen benannt werden können?

Versuchen wir es, hier tiefer einzudringen. Der Einfachheit halber betrachten wir nur einen Inbegriff von drei Gegenständen A, B, C. In die Vorstellung desselben müssen nach jener Theorie, die Unterschiedsrelationen
CA
eingehen (die Bogen mögen diese Relationen andeuten); sie
sind zusammen in unserem Bewusstsein gegeben und bewirken
die Einigung der Gegenstände zu dem collectiven Ganzen.
Möge man nun für A, B und C Inhalte welcher Art auch
immer setzen, immer bleiben diese Unterschiede als irgendwie
bestimmte vorhanden; sie bilden also die ‚Form' der Verschiedenheit, welche der Zahl drei charakteristisch ist.
Jedoch hier erheben sich gewisse Einwände: Sind jene Unterschiedsrelationen zusammen in unserer Vorstellung, dann muss, falls die Grundansicht der Theorierichtig ist, doch auch jede von jenen Unterschiedsvorstellungen als mit sich identisch und verschieden von jeder anderen percipirt worden sein; denn würden z. B. AB und BC nicht als verschieden erkannt werden, dann flössen sie eben unterschiedslos zusammen, und es könnten dann, wie man sofort sieht, auch deren Fundamente nicht als von einander unterschiedene in der Vorstellung des Inbegriffs auftreten. Es müssen also auch die sämmtlichen Unterschiede von den Unterschieden in unserer Vorstellung sein, d. h.:
ÄT3 ;Ki3;Um also der ‚Form der Verschiedenheit habhaft zu werden,
kämen wir in einen artigen regressus in inGnitum.
Um uns dieser Consequenz zu entziehen, gäbe es noch
einen Ausweg. Gehen wir, könnte man sagen, unterscheidend
von A. zu B und von diesem zu C über, dann ist eine neue
Unterscheidung des 0 von A nicht mehr erfordert; indem

wir nämlich die beiden Unterschiede AB und BO, welche durch das eine Fundament B zusammenhängen, vermittelst eines höheren Aktes der Unterscheidung auf einander beziehen, ist die Möglichkeit, dass 0 und A zusammenfliesse, eo ipso ausgeschlossen. So ergäbe sich als das wahre Schema:
B
Was nun auch immer A, B und 0 bedeuten möge, dieses
schematische Bild weist auf einen überall gleichartigen Process
hin. Abstrahieren wir daher von den Besonderheiten der
einzelnen Inhalte, einen jeden nur als irgendwie bestimmten
festhaltend, dann haben wir hier die gesuchte Form, welche
allen Vielheiten von drei Inhalten gemeinsam ist, und um derentwillen wir denselben auch die Zahl Drei zuschreiben.
Auf solche Weise könnte man alle Verschiedenheitsformen , welche die Grundlage der Zahlbenennungen bilden sollen, aufstellen. So wäre z. B. das Schema der einfachsten Zahl, Zwei: AB. In der That was wird (so könnte man seen) in allen Fällen wo eine Zweiheit vorliegt Anderes Torgestellt, als dies: es ist ein Gegenstand und noch ein von ihm v er schieden er Gegenstand da, und dieser allgemeine Gedanke bildet den Inhalt des Zahlbegriffes Zwei. Ist uns ein concreter Inbegriff von zwei Inhalten gegeben und legen wir ihm die Zahl Zwei bei, so heisst dies: wir lenken unsere Aufmerksamkeit bloss darauf, dass ein Inhalt und noch ein anderer Inhalt vorhanden ist; sie ruht nicht auf der Besonderheit des Unterschiedes, sondern auf dem blossen Factum eines solchen.
Die schematische Form für die Zahl Vier wäre3P. rD
und man übersieht nun leicht, wie sich die Formen weiter
compliciren Immer liegen Unterschiede vor, welche an einander

grenzen (d. la. ein Fundament gemeinsam haben), und es so ermöglichen, insgesamrat vermittelst unterscheidender Akte höherer Ordnung schliesslich in einem einzigen Akte befasst zu werden.
Diese Schemata würden als die Abbilder jener geistigen Vorgänge gelten müssen, wie sie bei der Vorstellung irgend eines Inbegriffes von resp. zwei, drei, vier u. s. w. Inhalten statthaben, und in Reflexion auf diese geistigen Vorgänge, deren wol charakterisirte Verschiedenheit innerlich bemerkt sein müsste, entständen die Zahlbegriffe.
Die ausserordentlich rasch steigende Complication jener Formen würde es auch erklären, warum wir nur von den allerersten Zahlen eigentliche Vorstellungen erlangen, während wir grössere Zahlen bloss symbolisch, gewissermassen nur auf Umwegen, denken können.
Man sieht ferner leicht ein, dass die Unabhängigkeit der Zahl von der Ordnung der gezählten Gegenstände, nach dieser Theorie unmittelbar aus der Natur des Zahlbegriffes folgt.
Auch auf den Sprachgebrauch könnte man sich schliesslich berufen. In demselben Sinne pflegt man zu sagen: A und 13 sind verschieden, A und B, das sind zwei Dinge ; u. s. f.
So scheint denn hier eine wohlbegründete Theorie auf
Zustimmung Anspruch zu erheben.
Indessen, selbst wenn alle die wesentlichen Ergänzungen,
welche die in ihrer Unbestimmtheit wenig fruchtbaren Behauptungen von Jevo ns erst zu einer Theorie ausgestalten,
vorgenommen werden, so bleibt doch, wie mir scheint, das
psychologische Fundament derselben unhaltbar.
Ehe ich tiefer in das Sachliche eingehe, muss ich die
Berufung auf den Sprachgebrauch als irreführend zurückweisen.
Genauer betrachtet zeugt er viel mehr gegen jene Auffassung,
als für sie. Nur in einer gewissen Betonung hat die Aussage:

,Dies sind zwei Dinge'
eine gleiche Bedeutung als die andere:
‚dieses Ding ist verschieden von jenem'. Es handelt sich dann
um ein bestimmtes Interesse, nämlich um Abwehr einer drohenden Verwechselung.
Wenden wir uns nun zu der Kritik der psychologischen
Grundlagen jener Theorie.
Es ist wahr, von einem Inbegriffe kann nur da die Rede
sein, wo Inhalte vorliegen, die von einander verschieden sind.
Unwahr ist aber die Behauptung die hieran angeschlossen
wird: diese Verschiedenheiten müssten als solche vorgestellt
worden sein, sonst wäre in unserer Vorstellung nur eine unterschiedslose Einheit und. keine Vielheit. Es ist wichtig, dass
man auseinanderhalte: zwei verschiedene Inhalten bemerken
und: zwei Inhalte als von einander verschiedene bemerken. Im ersten Falle haben wir, vorausgesetzt, dass die
Inhalte zugleich einheitlich zusammengefasst werden, eine Inbegriffsvorstellung, im zweiten eine Unterschiedsvorstellung.
Unsere Auffassung geht da wo ein Inbegriff gegeben ist, zunächst
bloss auf ab s olu te Inhalte (nämlich die, die ihn zusammensetzen); hingegen da wo eine »Unterschiedsvorstellung (oder ein
Complex solcher) gegeben ist, auf Verhältnisse zwischen
Inhalten. Nur dies ist richtig: wo eine Mehrheit von Gegenständen wahrgenommen wird, da sind wir stets b er ec htigt,
auf Grund der einzelnen Inhalte evidente Uhheile zu fällen,
welche besagen, dass ein jeder der Inhalte von jedem anderen
verschieden sei; aber unrichtig ist es, dass wir diese Urtheile
fällen müssen.
In Betreff der Begriffe Unterscheiden und Unterschied
herrschen überhaupt gewisse Unklarheiten, welche in Aequivocationen ihre Quelle haben, und welche sicherlich nicht wenig
zu den Irrthümern, die ich hier berühre, beigetragen haben
mochten.

1-5
1) ‚Unterschied' oder ‚Verschiedenheit' bedeutet das
Resultat einer Vergleichung. Eine Vergleichung kann entweder das Ergebnis liefern, dass die betrachteten Inhalte
gleich sind, oder dies, dass sie verschieden, d. h. nicht gleich
sind. Hier bedeutet also Verschiedenheit etwas Negatives, die
blosse Abwesenheit einer Gleichheit. In diesem Sinne spricht
man von dem Vergleichen und Unterscheiden als zusammengehörigen, enge verbundenen Thätigkeiten. In der That
kommen überall, wo es sich um ein willkürliches Vergleichen
handelt, Ergebnisse beiderlei Art vor, es werden affirmative
Urtheile gefällt, welche Gleichheiten anerkennen, und nach
anderen Seiten hin negative, welche solche verwerfen. Auf
dieses Affirmiren von Gleichheiten bezieht sich nun der Ausdruck ‚Vergleichen', auf das Negiren von Gleichheiten der
Ausdruck „TJnterscheiden" beim Gebrauche der Combination
„Vergleichen und Unterscheiden.'
In dem Falle, wo die Vergleichung von Inhalten in einer
gewissen Hinsicht zum Ergebuiss der Ungl ei c heit führt,
kann es aber eintreten, dass wenigstens eine Ähnlichkeit oder
‚Steigerung' u. s. w. bemerkt wird; dies sind wol charaktersirte
Relationsklassen, bei welchen, ganz so wie im Falle der Gleichheit, die Relationsvorstellung einen reellen positiven Vorstellungsinhalt repräsentirt. Man nannte nun auch diese Relationen
Verschiedenheitsrelationen , und insbesondere ist der Name
Unterschied oder Verschiedenheit fär' Abstände in Continuis
gebräuchlich (Ortsunterschied, Zeitunterschied, Unterschied der
Tonhöhe u. s. w.). Diese engere Bedeutung jener Termini
ehrte nun aber umgekehrt wieder dahin, auch die blossen
Ungleichheitsfälle, da sie Unterschiede hiessen, so aufzufassen,
als wären sie Inhaltsrelationen, d. 11. als läge bei ihnen die
Relation im Vorstellungsinhalte, während in der That nichts
weiter gegeben ist, als ein evidentes negatives TJrtheil, welches

das Vorhandensein einer solchen (nämlich einer Gleichheitsrelation) negirt.
Es mag vom practischen Gesichtspunkte der Vergleichung
aus immerhin nützlich sein, die sämtlichen Ergebnisse, zu
denen sie führen kann, unter die beiden Titel Gleichheit und
Verschiedenheit zu ordnen; es darf jedoch nicht übersehen
werden, dass dann unter dem letzteren Titel Relationsklassen
zusammenstehen, welche einander ihrer phaenomenalen Beschaffenheit nach fremd sind, während überdies ein Theil derselben mit den unter dem anderen Haupttitel geführten Gleichheitsrelationen in naher Verwandtschaft steht. Vom psychologisch- wissenschaftlichen Gesichtspunkte aus gehören die
Relationen der Ähnlichkeit, Gleichheit, metaphysischen Verbindung u. s. w., kurz alle Relationen welche den Charakter von
Vorstellungsphaenomenen im engeren Sinne (also nicht vorgestellten psychischen Phaenomenen) tragen, in eine Klasse,
die der Inhaltsrelationen. Zu ihnen gehört aber nicht die
Verschiedenheit im weitesten Sinne; denn sie ist nicht ein
zugleich mit den Fundamenten unmittelbar bemerkbarer Vorstellungsinhalt, sondern ein auf Grund derselben gefälltes,
resp als geeilt vorgestelltes, negatives Urtheil. —
2) Der Name Unterscheiden wird aber noch in einer
anderen Bedeutung gebraucht, welche mit der Analyse in
Zusammenhang steht. Dieser gemäss heisst ‚unterschieden' dasjenige, was durch Analyse herausgehoben und besonders bemerkt worden ist, und ‚unterscheiden' so viel als ‚aus scheiden',
‚analysieren'.
Indem man nun den die Analyse begünstigenden Bedingungen
nachforschte, zeigte es sich, dass eine Mehrheit von Theilinhalten um so leichter und sicherer ausgeschieden wird, je grösser,
der Zahl und dem Grade (oder Abstande) nach, ihre Unterschiede unter einander und der Umgebung gegenüber sind.
Diese Reflexionen, welche in Vergleichungen und Unterscheidungen an den bereits analysirten Inhalten bestanden, verleiteten nun hänfig zu der irrthümlichen Ansicht, als ob auch
die Thätigkeit des Unterscheidens in dem Sinne des Analysirens
eine solche Ur th eilsthätigkeit des Unterscheidens (im Sinne
des Unterscheidens verglichener Inhalte) sei. Man schloss
dann : damit mehrere Inhalte als aus geschieden e d. h.
analysirte, für sich bemerkte, im Bewusstsein sich erhalten
können, müssen sie als von einander unt er se hie den e,
d. h. verglichene und ihren Unterschieden nach besonders charakterisirte, gedacht werden. Dies ist falsch, ja offenbar absurd.
Die Urtheilsthätigkeit des Unterscheidens setzt evidentermassen
bereits ausgeschiedene, für sich bemerkte Inhalte voraus, es
können also diese,Inhalte nicht erst dadurch bemerkbar geworden
sein, dass sie von einander unterschieden wurden.
Dieser Irrthura ist es nun, welchen die von uns bekämpfte
Theorie begeht, indem sie argumentirt: Die Verschiedenheiten
zwischen den Gegenständen einer Vielheit müssen als s olche
bemerkt worden sein, sonst kämen wir in unserer Vorstellung
nie über eine unanalysirte Einheit hinaus und von Vielheit wäre
keine Rede ; es müssen also die Verschiedenheitsvorstellungen
explicite in der Vorstellung der Vielheit enthalten sein.
Richtig ist: wären die Inhalte nicht von einander verschieden, so gäbe es keine Vielheit. Richtig ist ferner : die Unterschiede mussten ein gewisses Mass überschritten haben ; sonst wäre eben keine Analyse eingetreten. Unrichtig aber ist die Supposition, als würde jeder Inhalt zu einem besonderen, d. h. für sich bemerkten erst durch die Auffassung seiner Unterschiede von anderen Inhalten; während doch evident ist, dass jede Unterschiedsvorstellung bereits für sich bemerkte und in diesem Sinne unterschiedene Inhalte als ihre Fundamente voraussetzt.
Damit eine concrete Inbegriffsvorstellung entstehe, ist es nur erfordert, dass ein jeder der darin befassten Inhalte ein für sich bemerkter, ein ausgeschiedener sei; es liegt jedoch keine unbedingte Nötigung vor, auf die Unterschiede der Inhalte zu achten, wenn schon dies häufig und, wo Unterschiede Abstände sind, in der Regel vorkommen wird.
Eben dasselbe, was von der Vorstellung des Unterschieds ausgeführt worden ist, gilt auch von derjenigen der Identität. Auch hier handelt es sich um Resultate der Reflexion über den Inhalt, welche nachträglich in ihn hineingelegt werden, als etwas angeblich in und mit ihm ursprünglich Gegebenes. Nach S ig w ar t sollen das Identischsetzen und Unterscheiden die Fundionen sein, welche den Begriff der Einheit liefern. „Denn was als identisch gesetzt und von einem anderen unterschieden wird, wird ebendarin ebenso wie dieses andere als Eins gesetzt." *) Indessen das Unterscheiden und Identischsetzen sind UrtheilstUtigkeiten , welche einen ganz anderen Zweck verfolgen, als der ihnen hier zugeschrieben wird. A ist mit sich identisch, d. h. A ist nicht nicht A, ist nicht B, C sondern eben A. Eine solche Reflexion hat die Absicht, Verwechselungen des Inhaltes mit anderen Inhalten hintanzuhalten. Diese Absicht wird erreicht, indem man die Unterschiede des A von den B, C u. s. w. aufsucht und hervorhebt. Aber während dieser Process sich anspinnt, sind A, B, 0 u. s. f bereits als von einander gesonderte Inhalte dem Bewusstsein gegenwärtig, und es ist durchaus nicht seine Aufgabe, erst zu trennen, was ursprünglich ein identisches Eins ist, sondern nur dies, für die weiteren Zwecke des Denkens durch charakteristische Merkzeichen, welche die Unterscheidung liefert, das Ähnliche auseinanderzuhalten und so aller zukünftigen Ver
*) Sigwart, Logik IT. Band, S. 37.wechselung vorzubeugen. Keineswegs handelt es sich hier um „constante, in jedem Denkakte sich wiederholende Thätigkeiten," in welchen "das in allen Akten gleiche und identische Selbstbewusstsein sieh verwirklicht", nicht um "Pactoren, welche die Einheit unseres Selbstbewusstseins constituiren" (a. a. 0.).
Ich glaube somit gezeigt zu haben, dass Vorstellungen der Identität und des Unterschieds nicht explicite zum Vorstellungsinhalte der Vielheit gehören. Sie können daher auch nicht die Basis für die Abstraction dieses Begriffes sowie der Zahlbegrfffe gebildet haben.
Zahlbegrfffe gebildet haben.Blicken wir nun auf unsere bisherigen Betrachtungen und
ihre Ergebnisse zurück.
Wir nahmen uns vor, den Ursprung der Begriffe Vielheit
und Zahl aufzuzeigen. Zu diesem Behufe war es notwendig
die concreten Phänomene, von denen sie abstrahirt werden,
genau ins Auge zu fassen. Diese lagen klar zu Tage als die
concreten Inbegriffe oder Mengen. Indessen besondere Schwierigkeiten schienen dein Uebergange von ihnen zu den Allgemeinbegriffen in den Weg zu treten. Eine Reihe von Ansichten
schieden und erläuterten wir, verwarfen sie jedoch sämmtlich.
Unser Augenmerk ruhte insbesondere auf der Art der
Synthesis, welche die Gegenstände einer Vielheit zu einem
Ganzen einigt, indem in der falschen Charakteristik derselben
die Quelle der hauptsächlichsten Irrthümer gelegen ist. Unsere
Ergebnisse waren, kurz zusammengefasst, die folgenden:
Wo immer wir einen Inbegriff vorstelle; sind wir uns der Inhalte als für sich bemerkter bewusst; um aber die Einigung
derselben zu charakterisiren, ist es weder gestattet auf die

Angehörigkeit zu Einem Bewusstsein hinzuweisen, noch auf 4
die Relationen der Gleichzeitigkeit oder zeitlichen Aufeinanderfolge oder räumlichen Verbindung oder endlich der Verschiedenheit
Welche Möglichkeiten bleiben nun noch übrig?
Wir haben von den Relationsklassen noch nicht alle untersucht — sollte unter den noch verbleibenden die collective
Verbindung ihre Stelle finden? Einer detaillirten Erwägung
der einzelnen Relationsarten sind wir jedoch aus leicht
ersichtlichen Gründen enthoben. Da wir wissen dass die
heterogensten Inhalte, ob physische oder psychische, in collectivischer Weise vereinigt werden können, so entfallen von vornherein alle Relationen, deren Anwendungsgebiet ein durch die
Natur besonderer Inhalte beschränktes ist; so die Ähnlichkeit,
Steigerung, continuirliehe Verbindung etc. Ja es scheint, dass
überhaupt keine der bekannten Relationsarten den gestellten
Anforderungen Genüge leisten könne, nachdem die zeitlichen
und die Unterschiedsrelationen ausgeschlossen sind. Allenfalls
könnte Jemand noch an die Gleichheitsrelationen denken;
denn, wie sehr auch zwei Inhalte von einander abweichen
mögen, immer wird es möglich sein eine, Rücksicht
anzugeben, in der sie einander gleich sind. In der That glaubte
man auch vielfach (ja es ist dies die Regel) bezüglich der
Entstehung der Zahlbegriffe auf Gleichheitsrelationen recurriren
zu müssen. Dies soll uns späterhin noch beschäftigen. Hier
aber genügt es darauf hinzuweisen, dass, was die concreten
Inbegriffe anbelangt, die möglicher Weise zu entdeckenden
Gleichheiten nicht die Relationen bilden können, welche die
Elemente eines Inbegriffes einigen Die Uhr und die Feder
— dies ist ein Inbegriff; aber indem ich ihn denke, brauche
ich nicht zuvor die beiden Inhalte unter den Begriff des Farbigen, Ausgedehnten etc. zu bringen.

Es bleibt also nichts übrig, als für die collective Verbindung eine neue und von allen anderen wol geschiedene
Relationsklasse in Anspruch zu nehmen. Demgemäss müssen
wir auch sagen : Die Inbegriffsvorstellung repräsentirt ein
Ganzes besonderer Art, dessen Theile durch gewisse, ihm ausschliesslich eigenthümliche Relationen, eben die von uns
collective Verbindungen genannten, verbunden sind.
Nachdem nun festgestellt ist, dass wir es hier mit einer
neuen und eigenartigen Klasse von Beziehungen zu thun haben,
wollen wir dazu übergehen, dieselben anderen Beziehungen
gegenüber näher zu charakterisiren. In der That kommen
ihnen merkwürdige Besonderheiten zu, die sie ihrem phänomenalen Bestande nach von allen übrigen Relationsarten sehr
wesentlich unterscheiden.
Da ich nicht in der Lage bin, mich auf eine allgemein
anerkannte Relationstheorie zu stützen, so sehe ich mich genöthigt an dieser Stelle einige allgemeine Bemerkungen, welche
dieses sehr dunkle Kapitel aer beschreibenden Psychologie
betreffen, einzufügen.
Zunächst wird es nützlich sein, uns über den Terminus
Relation zu einigen. Was ist in allen Fällen, wo wir von
einer ‚Relation' sprechen das Gemeinsame, um dessentwillen
eben dieser Name verwendet wird ? Darauf giebt uns J. St.
Mill in einer Note zu dem psychologischen Werke seines
Vaters *) folgende verständliche und meines Erachtens ausreichende Antwort: „Objecte, physische oder psychische sind in
Relation zu einander vermöge eines complexen Bewusstseinszustandes, in den sie beide eintreten, auch für den Fall, dass
der coraplexe Zustand in nichts weiter bestände, als im Denken
an beide zusammen. Und sie werden auf einander in so vielen
*) Analysis of the phenomena of the human mind by James Miii, ed. J. St. MilL London 1879. B. II. p. 7. if. Cf. Meinong Hume - Studien. II. Zur Relationstheorie. Wien 1882. p. 40.4*

verschiedenen Weisen bezogen, oder mit anderen Worten sie stehen in so vielen distincten Relationen zu einander, als es specifisch verschiedene Bewusstseinszustände giebt , von denen Beide Theile ausmachen".
Zum Zwecke einer Eintheilung der Relationen könnte man zunächst die Beschaffenheit der Phaenomone welche sie auf einander beziehen (der ‚Fundamente'), als Richtschnur nehmen. Indessen eine solche Eintheilung bliebe an der Oberfläche haften. Auf den verschiedenartigsten Gebieten finden wir Relationen, welche einen und denselben Charakter haben. So kommen Gleichheiten, Ähnlichkeiten, u. s. w. sowol auf dem Gebiete der ‚physischen Phänomene' als auch auf dem der ‚psychischen Phänomene' vor.*)
Man kann aber (und dies ist das tiefer greifende Eintheilungsprincip) die Relationen auch klassificiren nach ihrem eigenen phaenomenalen Charakter. Von diesem Gesichtspunkte aus zerfallen die Relationen in zwei Hauptklassen:
1) Relationen, welche den Charakter von ‚physischen
Phaenomenen` in dem von F. Brentano definirten Sinne besitzen.
Eine jede Relation ruht auf ‚Fundamenten', sie ist ein
complexes Phänomen, welches in einer gewissen (nicht näher
zu beschreibenden) Weise Theilphänomene umfasst; aber keineswegs umfasst eine jede Relation diese ihre Fundamente, intentional**), d. h. in jener specifisch bestimmten Weise, in der ein
‚psychisches Phänomen' (ein Act des Bemerkens, Wollens etc.)
seinen Inhalt (das Bemerkte, Gewollte etc.) umfasst. Man vor
*) Bezüglich der Bedeutung der Termini „physisches' und ‚psychische' s' Phaenomen und der fundamentalen, für unsere nächstfolgenden Betrachtungen unerlässlichen Unterscheidung, welche ihnen zu Grunde liegt, vergleiche man F. Brentano 's Psychologie vom empir. Standpunkte L Bd. 2. Buch, 1. Cap.
**) a. a. 0. p. 115.gleiche z. B. die Art, in welcher die Vorstellung, die wir Ähnlichkeit zweier Inhalte nennen, diese selbst einschliesst, mit irgend, einem Fall der intentionalen Inexistenz, und man wird anerkennen müssen, dass es sich um ganz verschiedene Arten des Einschlusses handelt. Darum ist eben auch die Ahnlichkeit nicht als ‚psychisches', sondern als ‚physisches' Phaenomen zu bezeichnen. Das Gleiche gilt auch für andere wichtige Relationen, z. B. für die Gleichheit, die Steigerung, die conthmirliche Verbindung (die Verbindung der Theile eines Continuura), die ‚metaphysische' Verbindung (die Verbindung von Eigenschaften, wie der Farbe mit der räumlichen Ausdehnung), den logischen Einschluss (wie der Farbe in der Röte) u. s. f. Jede dieser Relationen repräsentirt ein eigenartiges,physisches' Phänomen (in der hier zu Grunde gelegten Bedeutung dieses Termines) und gehört mit Bezug darauf in dieselbe Hauptklasse.
Ich bemerke noch ausdrücklich, dass es hier gar nicht darauf ankommt, ob die Fundamente, d. h. die Inhalte, welche auf einander bezogen werden, selbst physische Phänomene sind oder irgend welche psychischen Phänomene (vorgestellte psychische Zustände). Auch solche Gleichheiten, Ähnlichkeiten etc., die wir zwischen psychischen Acten oder Zuständen (Urtheilen , Willensakten u. w.) wahrnehmen, sind physische Phaenomene, nur treten sie aus Anlass jener psychischen auf und sind in ihnen begründet.
Am kürzesten könnten die Relationen dieser Klasse durch den Namen physische Relationen bezeichnet werden; nur müsste man sich vor dem Missverständnisse hüten, als ob es sich um Relationen von (oder ‚zwischen') physischen Inhalten handelte, während es hierauf, wie eben betont wurde, gar nicht ankommt.
2) Auf der anderen Seite steht eine zweite Hauptklasse von Relationen, welche dadurch charakterisirt ist, dass hier das Relationsphaenomen ein ,p sychisches` ist. Richtet sich auf mehrere Inhalte ein einheitlicher psychischer Akt, dann sind mit Rücksicht auf ihn die Inhalte verbunden oder auf einander bezogen.
Vollziehen wir einen solchen Akt, dann würden wir natürlich im Vorstellungsinhalte, den er einschliesst, vergeblich nach einer Beziehung oder Verbindung suchen (es sei denn, dass überdies noch eine physische Relation da wäre). Die Inhalte sind hier eben mir durch den Akt geeinigt, und es kann daher erst durch eine besondere Reflexion auf ihn diese Einigung bemerkt werden.
Als Beispiel kann jeder beliebige Vorstellungs-, Urtheilsoder Gefühls- und Willensakt herangezogen werden, welcher auf eine Mehrheit von Inhalten geht. Von jedem dieser psychischen Akte können wir im Einklange mit der Mill'schen Defmation sagen, er setze die Inhalte in Beziehung zu einander. Im Besonderen gehört hierher die bereits besprochene Unterschiedsrelation im weitesten Sinne, bei welcher zwei Inhalte durch ein evidentes negatives Urtheil in Beziehung gebracht werden.
Den charakteristischen Unterschied der beiden Klassen von Relationen kann man auch dadurch kennzeichnen, dass die physische Relationen in demselben Sinne zu dem jeweiligen Vorstellungsinhalte gehören wie ihre Fundamente, die psychischen jedoch nicht. Mit Rücksicht darauf könnte man die physischen Relationen recht passend auch In haltsr el ati o nen nennen.
Nach diesem Excurs in die Relationstheorie kehren wir nun wieder zu den besonderen Beziehungen zurück, deren Charakteristik uns am Herzen lag, und stellen die Frage:
Sind die Relationen, welche die Gegenstände des Inbegriffes einigen, und die wir collective Verbindungen nannten, Inhaltsrelationen in dem soeben praecisirten Sinne, so wie z. B. die metaphysischen und continuirlichen Verbindungen, oder müssen wir sie vielleicht der Klasse der psychischen Relationen zuweisen? Genauer ausgedrückt: Sind die collectiven Verbindungen im Vorstellungsinhalte des Inbegriffs als Theilphaenomene anschaulich so enthalten und besonders zu bemerken, wie etwa die metaphysischen Verbindungen im metaphysischen Ganzen, oder ist im Vorstellungsinhalte selbst nichts von einer Verbindung zu bemerken, sondern nur in dem psychischen Akte, welcher die Theile einigend umschliesst ?
Vergleichen wir, um diese Frage zu entscheiden, zunächst
den Inbegriff mit irgend einem Vorstellungsganzen.
Um bei einem solchen die verbindenden Relationen zu
bemerken, ist Analyse nötig. Handelt es sich z. B. um das
Vorstellungsganze, das wir Rose nennen, dann erhalten wir
durch Analyse successive die verschiedenen Theile derselben:
die Blätter, den Stengel u. s. w. (die physischen Theile), dann
die Farbe, deren Intensität, den Geruch etc. (die Eigenschaften).
Jeder Theil wird durch ein besonderes Bemerken herausgehoben und mit den bereits ausgeschiedenen zusamm en fest
gehalten. Als nächster Erfolg der Analyse ergiebt sich, wie
wir sehen, ein Inbegriff, nämlich der Inbegriff der für sich
bemerkten Theile des Ganzen. Nun treten aber, durch eine
gleichzeitige Reflexion auf dieses Ganze, das die Theile einigt,
auch die Verbindungsrelationen hervor als besondere und
specifisch bestimmte Vorstellungsphänomene; in unserem Beispiel: die continuirlichen Verbindungen der Blätter, oder die
wiederum ganz anders charakterisirten Verbindungen der Eigenschaften, wie der Röte und der räumlichen Ausdehnung, u. s. w.

In solcher Art ergeben sich also die Verbindungsrelationen
gewissermassen als das Mehr gegenüber dem blossen Inbegriff,
welcher die Theile bloss festzuhalten nicht aber zu verbinden
scheint. Was zeichnet also den Fall einer physischen Verbindung von demjenigen der collectiven aus? Offenbar dies,
dass im ersten Falle anschaulich im Vorstellungsinhalte eine
Einigung bemerkbar ist, im letzteren jedoch nicht. Dem Inbegriffe fehlt jedwede anschauliche Einheit, wie sie bei dem
metaphysischen oder continuirlichen Ganzen so klar hervortrtitt
und dies, obschon eine Einheit in ihm vorhanden und mit
Evidenz wahrnehmbar ist.
Dasselbe lehrt auch der Vergleich der collectiven Verbindung mit den Relationen der Gleichheit, Ähnlichheit, Steigerung- u. s. w., (welche innerhalb der Klasse der Inhaltsrelationen, ähnlich wie die Verbindungsrelationen eine
psychologisch wol charakterisirte Gruppe bilden). Obgleich
sie die Inhalte nicht ‚verbinden', welche ihnen als Fundamente
zu Grunde liegen, so bilden sie doch bemerkbare Vorstellungsphaenomene, und wieder erscheint ihnen gegenüber die collectivVerbindung gewissermassen als der Fall der Relationslosigkeit
Und so spricht man denn auch von ‚unverbundenen' oder
‚beziehungslosen' Inhalten dann, wenn es sich darum handelt,
die Abwesenheit von Inhaltsrelationen überhaupt, oder
von solchen, auf die gerade das leitende Interesse gerichtet
ist, zu betonen. In diesem Falle sind die Inhalte eben bloss
‚zusammen gedacht, d. i. als Inbegriff gedacht. Keineswegs
sind sie aber wirklich unverbunden, beziehungslos. Im Gegentheil, sie sind verbunden durch den sie zusammenhaltenden
psychischen. Akt. Nur im Inhalte desselben fehlt jede bemerkbare
Einigung.*)
*) Darum hat J. St. Mill ganz Recht, wenn er ausdrücklich betont, Objecte ständen schon dann in Relation zu einander, wenn wir auch nur zusammen an sie dächten. Sie bilden eben mit Rücksicht auf den sie zusammen denkenden psychischen Akt Theile eines psychischen Ganzen und können durch Reflexion darauf, jederzeit auch als verbundene erkannt

Auch der folgende Umstand zeigt, dass zwischen der collectiven Verbindung und allen elementaren Inhaltsrelationen, die uns bekannt sind, ein wesentlicher Unterschied bestehe, welcher nur darin seine Erklärung finden kann, dass die erstere überhaupt nicht zu den Inhaltsrelationen zu rechnen ist. Jede Relation ruht auf Fundamenten und hängt in gewisser Weise von ihnen ab. Während aber bei allen Inhaltsrelationen die Veränderlichkeit der Fundamente welche zulässig ist, um die Relation der Art nach zu erhalten, eine beschränkte ist, kann bei der collectiven Verbindung jedes Fundament völlig unbeschränkt und willkürlich varürt werden, während die Relation doch bestehen bleibt. Dasselbe gilt auch von der Unterschiedsrelation im weitesten Sinne Nicht jeder Inhalt kann mit jedem anderen als ähnlich, continuirlich verbunden u. s. f. gedacht werden; immer aber als verschieden und als collectivisch geeinigt Es liegt eben in beiden Fällen die Relation nicht unmittelbar in den Phänomenen selbst, sondern ist ihnen gewissermassen äusserlich.
So sprechen denn vielerlei Zeugnisse und vor Allem die innere Erfahrung selbst dafür, dass wir uns für die zweite Auffassung entscheiden müssen, der zufolge die collectivische Einigung nicht im Vorstellungsinhalte anschaulich gegeben ist, sondern nur in gewissen psychischen Akten, welche die Inhalte einigend umschliessen, ihren Bestand hat.
Offenbar kann es sich hier nur um die elementarten Aktewerden; dies macht ilire ‚Relation' aus, und nur wenn man diesen Terminus auf das, was wir Inhaltsrelationen nannten, beschränken würde, dann könnte natürlich im Falle psychischer Verbindung nicht mehr von Relation die Rede sein. Einestheils ist dies freilich Sache der Terminologie; anderentheils aber besteht de facto zwischen Inhaltsrelation und. psychischer Relation dem Hauptmomente nach so viel Gemeinsamkeit, dass ich nicht einsehe, warum hier ein gemeinsamer Terminus nicht gerechtfertigt sein sollte.

handeln, welche fähig sind, alle und jede Inhalte, seien sie noch so disparat, zu umfassen. Eine aufmerksame Betrachtung der Phänomene lehrt nun Folgendes:
Ein Inbegriff entsteht, indem ein einheitliches Interesse und in und mit ihm zugleich ein einheitliches Bemerken verschiedene Inhalte für sich heraushebt und umfasst.
Es kann also die collective Verbindung auch nur bemerkt werden durch Reflexion auf den psychischen Akt, durch welchen der Inbegriff zu stand e kommt. Und dies bestätigt auch positiv die innere Erfahrung. Worin besteht z. B. die Verbindung, wenn ich eine Mehrheit so disparater Dinge wie ,die Röte und der Mond' denke? Offenbar bloss darin, dass ich sie ‚zusammen' denke, in Einem Akte denke.
Die collective Verbindung spielt für unser ganzes geistiges Leben eine höchst bedeutsame Rolle. Jedes complicirte Phaenomen, welches für sich bemerkte Theile voraussetzt, jede höhere Geistes- und Gemütlasthätigkeit erfordert, um überhaupt enstehen zu können, collective Verbindungen von Theilphänomenen. Niemals könnte es auch nur zur Vorstellung einer einfacheren Beziehung kommen (z. B. einer Gleichheit, Ähnlichkeit etc.), wenn nicht ein einheitliches Interesse und zugleich damit ein Akt des Bemerkens die Fundamente zusammen heraushöbe und geeinigt festhielte. Diese psychische Relation ist also eine unerlässliche psychologische Vorbedingung für jede Beziehung und Verbindung überhaupt.
Die Abstraction, welche den allgemeinen Begriff der collectiven Verbindung liefert, bedarf nun keiner besonderen Erläuterung mehr. Vermöge ihrer elementaren Natur fand sie jedenfalls schon sehr frühe in der Sprache ihre Ausprägung. Eine bloss collective Verbindung drückt die Sprache dadurch

aus, dass sie die Namen der zu befassenden Einzeldinge durch das Bindewörtchen Und vermittelt.
§ 4.Nachdem wir die psychologische Natur der collectiven Verbindung festgestellt haben, können wir die Lösung unserer Aufgabe, den Ursprung und Inhalt der Begriffe Vielheit und Zahl aufzuzeigen, zur Vollendung bringen.
Wir haben (p. 16) ausgeffihrt, dass die Abstraction, welche den Begriff der Vielheit oder des Inbegriffs ergiebt, in ähnlicher Weise die Reflexion auf die collectivische Verbindungsart erfordere, wie z. B. die Abstraction des Begriffes ‚metaphysisches Ganze' die Reflexion auf die metaphysische. Um jene Abstraction zu ermöglichen ist nur nöthig, dass die Verbindungsrelationen zwischen den Elementen des Inbegriffs, als das was sie sind, nach ihrer von allen anderen Relationen wohl unterschiedenen Beschaffenheit jederzeit bemerkbar sind, und es ist in dieser Hinsicht unwesentlich, ob diese Verbindungen im Vorstellungsinhalt selbst, oder ob sie bloss in dem psychischen Akte, welcher den Inbegriff vorstellt, gegeben sind. Für das Letztere nun hatten wir uns entschieden. In Reflexion auf jenen elementaren Akt des heraushebenden Interesses und Bemerkens, welcher die Inbegriffsvorstellung zum Inhalte besitzt, erlangen wir die abstracte Vorstellung der collectiven Verbindung, und vermittelst ihrer bilden wir den Allgemeinbegriff der Vielheit als eines Ganzen, welches Theile in bloss collectivischer Weise verbindet Indessen, es ist besser die Ausdrücke , Ganzes ' und , Theil bei Seite zu lassen, sie erwecken unwillkürlich den Gedanken einer innigeren, inhaltlichen Einigung, wie sie hier in keiner Weise vorliegt. Wir ziehen es also vor zu sagen: Eine Vorstellung, welche Inhalte

als bloss collectivisch verbundene befasst — dies Alles in abstract° gedacht — das ist der Begriff der Vielheit.
Damit haben wir aber doch nur eine Umschreibung. Was ist der wirkliche Gedankeninhalt, wenn wir den Begriff ;Vielheit' denken?
Die Inhalte, welche zu Inbegriffen colligirt werden können, unterliegen, wie wir wissen, keinerlei Beschränkungen; es können daher auch in den Allgerueinbegri ffkeinerlei inhalt liehe Besonderheiten eintreten. Es müssen aber, da derselbe einen Relationsbegriff repräsentirt, Theile in ihm irgend wie gedacht werden. Und dies geschieht auch, ohne Schwierigkeit, in entsprechender Weise. Die einzelnen Inhalte werden eben nicht als bestimmte, sondern vielmehr als gänzlich unbestimmte, als irgend w e le h e Inhalte gedacht, ein jeder als irgend Etwas, als irgend Eins. Ersparen wir uns nun auch noch den wissenschaftlichen Terminus „collective Verbindung" und halten uns bloss an das Wörtchen „Und", welches dieselbe in vollkommen klarer und verständlicher Weise bezeichnet resp. andeutet, dann können wir ganz einfach und ohne Umschreibung sagen : Inbegriff oder Vielheit, in abstract° gedacht, ist nichts Anderes als : Irgend Etwas und irgend Etwas und irgend Etwas u. s. f. oder: irgend Eines und irgend Eines und irgend Eines u. s. f.; oder kürzer. Eins und Eins und Eins u. s. f.
Wir sehen also, der Begriff der Vielheit enthält nebst dem Begriffe der collectiven Verbindung nur noch den Begriff des Etwas.
Dieser allgemeinste aller Begriffe ist nach Ursprung und
Inhalt leicht analysirt.
Etwas ist ein Name, welcher auf jeden denkbaren Inhalt
passt. Jedes wirkliche oder Gedankending ist ein Etwas. Aber
auch ein Urtheil, einen Willensakt, einen Begriff, eine Unmög

lichkeit, einen Widerspruch u. s. w. können wir so benennen.
Der Begriff Etwas ist natürlich durch keine denkbare Inhaltsvergleichung aller Gegenstände physischer und psychischer Art
zu gewinnen. Eine solche Vergleichung bliebe schlechthin
ohne Resultat. In der That ist ‚Etwas' kein Theilinhalt.
Worin alle Gegenstände -- wirkliche und mögliche, reale und
nicht i;eale, physische und psychisch eu, s. w. — übereinkommen,
ist nur dies, dass sie Vorstellungsinhalte sind oder durch
Vorstellungsinhalte in unserem Bewusstsein vertreten werden.
Offenbar verdankt der Begriff des Etwas seine Entstehung der
Reflexion auf den psychischen Akt des Vorstellens , als
dessen Inhalt eben jedes bestimmte Object gegeben ist. Das
‚Etwas' gehört also nur in jener äusserlichen und uneigentlichen
Weisel zum Inhalt eines jeden concreten Gegenstandes, wie
irgend welche relativen und negativen Attribute (wie z. B.
, ähnlich dem B', „nicht u. s. f.) ; ja es ist selbst als eine
relative Bestimmung zu bezeichnen. Natürlich kann der Begriff Etwas nie gedacht werden, ohne dass irgend ein Inhalt
gegenwärtig ist, an dem jene Reflexion vollzogen 'wird; doch
hiezu ist jeder gleich gut geeignet, selbst der blosse Name Etwas.
Kehren wir mm zum Begriff der Vielheit zurück. Wir
erklärten ihn als: Etwas und Etwas und Etwas u. s. w. oder
Eins und Eins u. s. w. Dieses „u. s. w." deutet eine Unbestimmtheit an, welche dem Begriffe wesentlich ist. Es ist
damit natürlich nicht gemeint, dass wir in infinitum fortgehen
sollten, sondern nur dies, dass hierüber keine Bestimmung getroffen sei. De facto findet allerdings, indem wir ,Vielheie
denken, sehr rasch eine Begrenzung statt; aber mit dem Bewusstsein, dass sie eine willkürliche sei, auf die es gerade nicht
ankomme. Dies ist der Begriff der Vielheit im weitesten
Sinne.
Durch Hebung jener Unbestimmtheit entstehen aus ihm

die bestimmten Vielheitsbegriffe oder Zahlen. Der allgemeinere Begriff der Vielheit umfasst alle Begriffe der Art wie:
,Eins undEins'; ,Eins undEins und Eins'; ‚Eins und
Eins und Eins und E i ns' ; u. s. w. als seine Specialisirungen.
Dieselben sind in ihrer bestimmten Begrenzung von einander
wol unterschieden und erhielten demgemäss besondere Namen:
zwei, drei, vier, u. s. f.
Jede concrete Vielheit fällt unter einen, und zwar einen
bestimmten. dieser Begriffe, ihr ‚kommt eine gewisse Zahl zu`.
Es ist leicht, die Abstraction zu charakterisiren , welche an
einer concret vorliegenden Vielheit vollzogen werden muss, um
den Zahlbegriff, unter den sie fällt, zu erlangen. Man betrachtet jeden der einzelnen Gegenstände bloss insofern er ein Etwas oder Eins ist, hiebei die collective Verbindung festhaltend, und erhält in solcher Weise die entsprechende allgemeine
Vielheitsform; Eins und Eins und und Eins; mit welcher ein bestimmter Zahlnahme associirt ist. Von der besonderen Beschaffenheit der einzelnen Gegenstände wird bei diesem
Processe gänzlich abstrahirt. Hierait ist aber nicht gesagt
und folgt nicht, dass die concreten Objecte aus unserem Bewusstsein entschwinden müssen. Von etwas ,abstrahiren` heisst
bloss: darauf nicht besonders merken. So lenkt sich auch in
unserem Falle auf die inhaltlichen Besonderheiten der einzelnen
Individuen kein specielles Interesse, während sie doch die Vorbedingungen für jene Reflexionen bilden, welche die ‚Einheiten'
der Zahl ergeben und deren Unterschiedenheit begründen.
Fassen wir nun noch einmal die psychologische Grundlage der Zahlbegriffe ins Auge.
Zweierlei constituirt nach unserer Auffassung
den Begriff der Zahl: 1) der Begriff der collectiven Einigung 2) der Begriff des Etwas.
Die Abstraction des Ersteren wird dadurch
möglich, dass in allen Fällen, wo discreteInhalte
zusammen, d.h. in einem Inbegriffe, gedacht werden, ein und derselbe, stets gleichartige Akt des
zusammenfassenden Interesses und Bemerkens
vorhanden ist, welche die einzelnen Inhalte, einen
jeden für sich gesondert (d. i. als fürsichbemerkten) und zugleich mit den anderen, einigend zusammenhält. Im Hinblick auf diesen einigenden
Akt gewinnen wir die abstrakte Vorstellung der
collectiv en Verbindung.
Was die Subsumption irgend eines Inhaltes unter den Begriff des Etwas anbelangt, so erfordert sie die Reflexion auf den Akt welcher diesen Inhalt vorstellt.
Die beiden psychologischen Bestandstücke des Zahlhegriffes sind offenbar nicht unabhängig von einander. Wir können keine collective Einigung denken ohne geeinigte Inhalte, und wollen wir sie in abstract° vorstellen, dann müssen die Inhalte als irgendwelche Etwas gedacht werden. Ist dem aber so, was macht dann noch den Unterschied zwischen den Begriffen collective Einigung und Vielheit aus?
Die Antwort liegt nahe: im ersteren Falle ruht das Interesse ausschliesslich auf der Verbindung der willkürlich gedachten Inhalte, im letzteren auf dem Inbegriffe derselben als Ganzem, d. h. es wird auf die Elemente geachtet in dieser ihrer Einigung. So gehört Beides gleich wesentlich zum Begriff der Vielheit: der Begriff des Etwas und derjenige der collectiven Einigung.
Man sieht, der Begriff Etwas verhält sich genau ebenso zu einem concreten Inhalte, wie der Begriff der Zahl zu einem Inbegriffe concret vorliegender Inhalte. Der Begriff des Etwas ist jedoch der primitivere ; ohne ihn gäbe es keine Zahl Das elementare Factum, welches bei ihr neu auftritt und sie wesentlich bedingt, ist dasjenige, welches den Begriff der collectiven Einigung möglich macht. *)
*) Die vorstehenden Blätter enthalten das 1. Kapitel einer Schrift, welche demnächst in dem Verlage von 0. E. M. Pfeffer (R. Stricker) in Halle erscheinen_wird.