View Single Post
Old 03-03-2013, 11:14 AM   #196
medard
Wizard
medard ought to be getting tired of karma fortunes by now.medard ought to be getting tired of karma fortunes by now.medard ought to be getting tired of karma fortunes by now.medard ought to be getting tired of karma fortunes by now.medard ought to be getting tired of karma fortunes by now.medard ought to be getting tired of karma fortunes by now.medard ought to be getting tired of karma fortunes by now.medard ought to be getting tired of karma fortunes by now.medard ought to be getting tired of karma fortunes by now.medard ought to be getting tired of karma fortunes by now.medard ought to be getting tired of karma fortunes by now.
 
medard's Avatar
 
Posts: 1,014
Karma: 5595784
Join Date: May 2012
Device: Electronic Paper
Um noch einmal klar zu machen wie komplex und oftmals unproduktiv die Konstruktion eines "Autorenwunsches" ist, habe ich nun noch zwei Beispiele ausgewählt.


Chaim Soutine: Soutine lebt drei Jahre in Céret und fertigt dort (schätzungsweise) 200 Gemälde an. Ein paar Jahre später ist der zuvor völlig verarmte Soutine ein gefeierter Künstler und bemüht sich darum, Gemälde aus der Céret-Periode zurückzuerweben und zu vernichten. Nebenbei vernichtet er aber auch noch aktuelle Werke, ein Plan ist kaum erkennbar. Oftmals verlangt Soutine sogar von Kaufinteressenten seine alten Werke für ihn zurückzuerwerben um sie vernichten zu können.

Was soll der Kaufinteressent da nun tun, was ist da eigentlich der Künstlerwille? Soll der Interessent wirklich sechs Gemälde zusammenkaufen (ihr Marktwert steigt durch diese Massnahmen natürlich) und vor den Augen des misstrauischen Künstlers vernichten, nur um ein aktuelles Werk vor der Vernichtung zu bewahren? Denn je länger ein aktuelles Gemälde bei Soutine herumliegt, desto grösser ist die Gefahr, dass er es ebenso vernichtet.

Franz Kafka: Kafka publiziert zu Lebzeiten vergleichsweise wenig, er war zu Lebzeiten als Autor völlig unbekannt und das entsprach auch offensichtlich seinem Wunsch und seinem Wesen. Testamentarisch verfügt Kafka die Vernichtung der unveröffentlichen Manuskripte, und dem wird nicht entsprochen. Tatsächlich wird Kafka - entgegen seines ausdrücklichen Wunsches - einer der wichtigsten und einflussreichsten Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Und es kommt noch schlimmer: In den veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen finden sich Kürzungen, um Kafka und noch lebende Beteiligte in ihrer Intim- und Privatsphäre zu schützen.

Jede Kafka-Edition ist eine Missachtung des "Autorenwillens". Und dennoch gibt es dutzende Kafka-Forscher, die sich hinter diese Editionen stellen.


Ein Künstler ändert seine Meinung, seine Ansichten und seine ästhetischen Vorlieben, seinen Stil und seinen Anspruch im Laufe seines Lebens. Das ist ganz normal. Man beachte nur, wie oft Karl May seine Auffasssung geändert hat, wie sein Werk "in Warheit" zu lesen und zu verstehen sei. - May ist natürlich in diesem Kontext nur ein lustiges Beispiel, denn er hat wie ein schelmischer Wirtshausbetrüger seine Ansichten sehr flexibel den jeweiligen Erfordernissen angepasst..

Es gibt eine ganze Vielzahl von Beispielen, die nicht so extrem und existentiell wie Kafka oder Soutine sind. Un- oder kaum bemerkte Änderungen durch den Autor in verschiedenen Auflagen, zum Beispiel.

Da ein Mensch nun einmal seine Ansichten im Laufe seines Lebens ändert ist es nicht angemessen von einem Autorenwillen zu sprechen. Und selbst eine spezielle Buchausgabe muss keinesfalls dem Autorenwillen genügen, es können durch den Lektor, den Setzer, den Herausgeber oder den Drucker Änderungen vorgenommen worden sein, die mit dem Manuskript nichts zu tun haben.

Ein Buch ist nun einmal kein Gemälde mit Echtheitszertifikat, zumindest nicht im Normalfall.

Im Einzelfall kann ein Autorenwille ausgesprochen worden sein, wie im Falle Schopenhauers. Dennoch ist das nicht zwingend, denn ein 60-jähriger Denker hat kein Recht über Werke verfügend zu urteilen, die er als 20-jähriger veröffentlicht hat. Das muss der Leser selber entscheiden dürfen, wie er damit umgehen möchte.

Last edited by medard; 03-03-2013 at 11:22 AM.
medard is offline   Reply With Quote